Die Harmonie im Frieden

Der offene Himmel wird von weißgrauen Wolkenschiffen beherrscht, die geschwind im blauen Meer dahinziehen und partiell unentschlossen navigieren. Von dannen für alle Zeiten. Indessen die Sonne sich nur zeitweilig die Ehre gibt und ihre goldenen Strahlen lächelnd hernieder sendet. Der Damm liegt verlassen in der Abgeschiedenheit und lädt mich wehmütig zu einem Besuch ein, worauf ich mich freilich mit Freuden einlasse. Überhaupt, mein gesamtes Laufareal läßt die gelobte Einsamkeit hochleben, eine stille wie belebende Einsamkeit, in der ich mich dem erkenntnisreichen Täglichlaufen par excellence hingeben kann. Nur getragen von einer melancholischen, gehaltvollen Stimmung – welche in jeder Faser meines Körpers und auch Geistes eindringt, die allumfassenden Partikel entfaltet, tiefe Zufriedenheit manifestiert und mich nahtlos in das wahre Leben integriert. Dies kann man nur sehen, fühlen und empfinden – mit dem Herzen. Das ist Täglichlaufen, ein unbeschreibliches Gefühl von Liebe, Frieden und Glück. Für den Unwissenden mag sich diese meine Anschauung natürlich übertrieben pathetisch anhören; allein wer mich versteht, wird nur zustimmend lächeln.

Nicht selten laufe ich an meinem Lieblingsufer einfach vorbei, mehr oder weniger unbeachtet; ja, ein kurzer Blick und schon konzentriere ich mich nach vorn, auf den zukünftigen Pfad. Doch nicht heute, nein, es gelingt mir nicht. Ein unsichtbarer Magnetismus erfaßt mich, zieht mich in seinen anziehenden Bann und wie von Geisterhand werden meine Schritte umgelenkt und die mit Unsichtbarkeit behandschuhte Hand leitet mich zum Strand. Eine unbekannte Macht hat mich zum Seeufer geführt, ohne mich zu fragen, ja, ich bin fast willenlos. Aber ich weiß, das sind jene besonderen Momente in unserem Raum-Zeit-Kontinuum, die nicht nach einem etwaigen Sinn fragen; sie lassen sich nicht erklären – sie sind einfach. So stehe ich am Wasser und erfasse die Begebenheiten der komplexen Situation. Im Hintergrund vernehme ich in der Ferne einen sangeskräftigen Pirol und nicht weit von ihm entfernt den unermüdlichen Kuckuck, der nicht minder engagiert die holde Damenwelt beeindruckt.

Ich selbst beobachte den ungestümen See, der ruhelos Welle um Welle mit Inbrunst an das Land wirft. Wenn auch kein Sturm das Witterungszepter führt, so weht dennoch ein nicht unbedeutender Wind in der natürlichen Welt. Das Schilf biegt und unterwirft sich demütig den wehenden Gewalten, die leidenschaftlich über den See galoppieren und sich mit den Wogen zu vereinigen scheinen. Selbst das Gras bewegt sich wellenartig, die Bäume vollziehen ihren zärtlichen Blättertanz, während hingegen die kraftvollen Kronen sich nur behutsam dieser Stärke beugen. Vereinzelte, tote Blätter treiben im Wasser, werden nach vorn geworfen, um eine Sekunde später zurückgezogen zu werden. Anschließend gleiten sie erneut nach vorn, unendlich oft wiederholt sich das konvulsivische Spiel.

Am Strand regungslos verharrend, beobachte ich das formidable Panorama, welches sich mir am Horizont bietet. Mein Blick schweift in die Ferne, doch ich nehme das Diesseits nicht mehr wahr; ich spähe längst in andere Sphären. Zwar stehe ich in der „Gegenwart“ – was immer das auch sein mag, gleichwohl schweift mein Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Ich bin da und doch nicht da. Ich bin dort und doch nicht dort. Mein gesamtes Ich, das Wesen meiner Selbst reduziert sich elementar – mein Körper bleibt zurück, indes mein Geist frei ist, ja, wahrhaftig frei – in dieser Sekunde, in diesem Augenblick – ohne Schranken oder Grenzen. Durchströmende Energie. Vergessene Vergangenheit, konzentrierte Zukunft. Die Perzeption des Jetzt, meiner Selbst divergiert; alles verändert sich – ich fühle nur noch und L E B E. Reduziert auf das Elementarste überhaupt. Die Poesie der banalen Existenz. Und erkenne den Frieden im Sein; die Harmonie, die sich daraus erwächst. Alles ist im Fluß, jedwede Bewegung und jeder Stillstand konvergiert in der Natur, interagiert in Perfektion. Welch Gnade, auf der Basis meines Täglichlaufens just zu diesem Zeitpunkt hier angekommen zu sein, mental in das Firmament aufzusteigen, um die Gedanken dahintreiben zu lassen, um derart intensive Gefühle erleben zu dürfen und am essentiellen Dasein zu partizipieren. Kilometer. Täglichlaufen. Meine absolvierte Dekade. Ich. Das Laufen selbst. All das ist obsolet, ja, das ist unbedeutend. Mir geht es nur um eines, Fühlen. Zufriedenheit. Harmonie. All das vereint im Frieden, im verkörperten Gleichgewicht. Das ist mein Weg, danach strebe ich; das Täglichlaufen ist nur die Maske, die das generiert, eine Art Katalysator. Welch ein Tag! Welch ein Lauf! Welch ein Moment! Die Harmonie im Frieden. Leise Stille. Frieden.

34 Antworten to “Die Harmonie im Frieden”

  1. Ich lächle in diesen Minuten zustimmend. Denn ich verstehe dich. Schon aus dem grund weil ich dich schon solange auf diesem Weg begleite. Einen Weg, den ich anfangs nicht verstanden habe, welch Frevel!

    Hast du es bemerkt? Ich stand am Strand neben dir und wir haben gemeinsam diese deine Welt beobachtet.

    Ein wunderschöner und mitreissender Bericht, danke schön!

  2. Ja, ich habe es bemerkt; allein wie könnte ich nicht? Vielen Dank für Deine Antwort und freilich für Deine Begleitung, meine liebe Brigitte.

    Das war kein Frevel. Schließlich verstehe ich diesen meinen Weg selbst nicht vollständig. Doch ich bemühe mich. 🙂

  3. Nur ins Wasser wär ich nicht gegangen *graus*. Aber am Strand stehen oder auch sitzen, das wäre schön!

  4. In das Wasser gehe ich auch nicht. Dank der nahen Industrieanlage betrachte ich das eher skeptisch. Aber die Aussicht ist grandios.

    Obwohl, ein wenig Abkühlung ist nicht zu verachten:

    😀

  5. Hahahahahahahah, du bist lustig. Aber da wars noch saukalt *bibber*.

    Ja, wer weiß was da so alles drin ist, vor allem Lebewesen *örks*

  6. Ein wenig. Nicht viel später dominierte die Eiswelt. Das war schön. 🙂

    Die Lebewesen sind harmlos… 🙄

  7. Das war eher kalt, ned schön *gg*.

    Na ich weiß nicht… was ist wenn da ein Hai auftaucht 😯

  8. Die Herrlichkeit der Welt…

    Du kennst ja den alten Spruch, wo Krokodile leben… 😉

  9. 😯 das ist nicht gut, gaaar nicht gut! 😯

  10. Harmlos. Im Prinzip existiert nur ein Raubtier(virus), welcher wirklich gefährlich ist.

  11. „Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“

    (Albert Einstein)

    Unser Grundproblem, wir denken nicht.

  12. DocRunner Says:

    Danke Marcus, für die wohl gewählten und so bildhaften Worte. Wie Brigitte schon schrieb, man hat den Eindruck neben Dir zu stehen respektive zu laufen. Es ist einfach wieder ein toller Beitrag, der bestätigt, dass Laufen mit der Natur verbindet und die Augen nicht nur mit dem Gehirn sehen, sondern auch anfangen mit dem Herzen zu sehen. Wenn es denn eine Seele gibt, muss sie genau in diesen Momenten aufgehen und fast überlaufen…

    Ich hatte dafür heute den Kampf gegen die Elemente, schwüle Hitze beim Loslaufen und dann starken Wind, meist von vorne, verbunden mit waagrechtem Sprühregen, allerdings reichte die Nässe nicht aus mich richtig nass zu machen, da wäre ein Lauf mit Dir durch die Fluten schon erfrischender gewesen.

    Ich wünsche Dir noch viele solche Momente und uns Lesern viele solche Beiträge, am besten in einem schönen gebundenen Buch 😉 Ich wollte es nur mal wieder in Erinnerung rufen 🙂

    Salut
    Christian

  13. Lieber Christian,

    ich danke Dir für Deine wohlwollenden Worte ob meines kleinen wie unbedeutenden Momentes, den ich hier formuliert habe und der gestern doch die Welt, das wahre Leben für mich offenbart hat. Das waren Minuten, die nicht mit den Sinnesorganen erfaßt werden konnten. Sie waren dazu nicht fähig.

    Wenn es denn eine Seele gibt, muss sie genau in diesen Momenten aufgehen und fast überlaufen… Besser kann man es nicht formulieren. 🙂

    Für mich war es ein Lauf der Besinnung, für Dich ein Kampf mit und gegen die Elemente, was freilich seine besonderen Reize hat. Ein wenig Regen (ich bin schon bescheiden ;)) beim Laufen würde ich mir auch mal wieder wünschen, denn bezüglich Regenläufen enttäuscht dieses Jahr.

    Danke für die Erinnerung; mittlerweile könnte ich mir das selbst ganz gut vorstellen. Allein die Realisierung.

    Einen wunderbaren Sonntag, im Zeichen der Elemente wünsche ich Dir.

  14. Du hast es wieder einmal prächtig beschrieben.
    Danke für deine Mitnahme!
    Einen schönen Sonntag wünsche ich Dir.

  15. Danke Gerd, das wünsche ich Dir auch.

  16. RunningOtto Says:

    Thx für das klasse Post Marcus! Das geht heute in Richtung Zenrunning. Wie immer hast du das perfect geschrieben. Deine Schreibe ist sowieso einzigartig. Mir ist bewusst, dass du das nicht hören willst. Frage! Wo findet man solch Posts wie du sie hier schreibst? In der Tiefe? Gedanklich?Plastisch geschrieben? Nirgends! Also musst du mit dem Lob leben! Sorry! :mrgreen:

    Keep on STREAKrunning!

    MfG

  17. Ich kann und will das nicht beurteilen, lieber Otto. Von daher lasse ich Dein Kompliment stehen und betrachte es entsprechend. Vielen Dank für Deine lobenden Worte. 🙂

  18. RunningOtto Says:

    Buch: Ich seh das wie meine Vorredner. Deine Posts als gebundenes Buch mit Fotos von deiner Site! Das wärs! (Ich drucks mir oft aus)

    schönen Abend!

  19. Auf Hochglanz-Photopapier? 😉

    Ja, die Vorstellung gefällt mir mittlerweile auch recht gut.

  20. Lieber Marcus,

    zu diesem wunderschönen Artikel kann ich ebenfalls einfach nur zustimmend lächeln!

    Hab einen schönen Sonntag mit einem ebenso erfüllenden Lauf!

    Viele liebe Grüße

    Petra

  21. Vielen Dank, liebe Petra. Ich wünsche Dir ebenfalls einen herrlichen Laufsonntag. 🙂

  22. Hallo Marcus,
    ein schöner Artikel! So etwas Intensives erlebt man nicht jeden Tag, auch nicht als Täglichläufer, oder? Doch es sind die besonderen Momente, die man ab und an doch erleben darf. So wie Du es beschrieben hast, auch das ist einzigartig! Macht viel Spaß, es zu lesen!
    Wünsche noch einen schönen Restsonntag!

    Liebe Grüße
    Kornelia

  23. So wurde aus dem Restsonntag der Montag. 😉

    Das war ein ganz rarer Moment, den ich selbst als Täglichläufer nur sehr, sehr selten erleben darf. Umso mehr weiß ich jenen Augenblick im Weltgesang zu schätzen.

  24. „Zufriedenheit. Harmonie..“ Diesen Status erreichen in der von Dir beschriebenen Form vermutlich nur wenige, lieber Marcus. Mögen Dir Empfindungen dieser Art auch weiterhin beschieden sein. In diesem Sinne wünsche ich Dir eine gute Woche.
    Liebe Grüße
    Dietmar

  25. Jener Tag und Lauf, jener Moment und die daraus resultierenden Empfindungen, welche ich hier beschrieben habe – zumindest im Ansatz – symbolisieren für mich mein Täglichlaufen. Aber in dieser Form erlebe ich das auch sehr selten.

  26. Richard Says:

    Erneut danke ich ihnen für einen tief bewegenden Artikel. Mein Wunsch sich treu zu bleiben wie ich in ihrem Jahresartikel bemerkte, sind sie nachgekommen. Trotz der 10 Jahre. Viele Menschen laufen ohne wirklich zu laufen. Sie üben zwar etwas aus, aber ohne Leidenschaft. Ihre Leidenschaft Täglich-Laufen leben sie wirklich. Das wirkt sich auf ihre nachdenklichen Artikel aus und das ist es was fasziniert.

    Danke für das Teilhaben daran.

    Herzlichst
    Richard

  27. Nichts zu danken, Richard. „Trotz der zehn Jahre“ – ja. Das war ein Anlaß, um extremen Stolz hochleben zu lassen (anfällige Charaktere) und wenn ich freilich auch stolz bin, tue ich das nicht. Im Gegenteil, diese Zäsur – und das war sie – generiert eher eine konträre Haltung meinerseits. Das tendiert in Richtung Demut; demnächst mehr darüber.

    Ohne Liebe und Leidenschaft kann man keine Dekade Täglichlaufen praktizieren. Doch hat sich das dabei in die natürlichste Geschichte der Welt für mich entwickelt. Für mich.

    Wie kann man nur jeden Tag laufen? Wie kann man nur N I C H T jeden Tag laufen? Die Herrlichkeit der Welt ist immer adäquat der Herrlichkeit des Geistes, der sie betrachtet. (Heinrich Heine).

  28. […] Gelebtes Täglichlaufen Das leben, was man liebt und lieben, was man lebt. « Die Harmonie im Frieden […]

  29. Lieber Marcus,

    welch ein grandioser Laufbericht! „Ein unsichtbarer Magnetismus erfaßt mich“ – das kenne ich nur zu gut! Und egal wie sehr man darüber nachdenkt, man weiß einfach nicht warum, gelle?
    Deine Gedanken, deine Empfindungen, einfach nur grandios – auch das kenne ich nur zu gut – das ist es, warum wir laufen – „Die Harmonie im Frieden. Leise Stille. Frieden!!!“

    Danke lieber Marcus, danke für´s Mitnehmen, mir war, als stünde ich neben dir am See….

    Herzliche Grüße,
    Steffen

  30. Über manche Momente im Leben darf man einfach nicht nachdenken, banales reduziertes Leben und Fühlen. Das ist es. Und das ist Täglichlaufen. Willkommen in meiner Welt, lieber Steffen! 🙂

  31. […] eines, ganz simpel – um Einfachheit. Um Einklang. Täglichlaufen im Einklang mit mir selbst. Ja, die Harmonie im Frieden. Das ist es. Die Quelle meiner Selbst im temporären Dasein meiner kümmerlichen Existenz – ich […]

  32. […] geliebte Natur und mein geliebtes Täglichlaufen. Sie bilden eine sich bedingende Einheit, einen harmonischen Einklang im Frieden, der mich von Grund auf verändert hat und mich heute zu dem macht, was ich bin. Die gefühlte […]

  33. […] Das Lied des Eises 03.04.2011 Die Melodie der Erweckung 30.04.2011 Sturmreiter der Macht 14.05.2011 Die Harmonie im Frieden 30.06.2011 Gefühlte Angst 04.07.2011 Finstertränen im Sommerglanz 23.07.2011 Friedvoller Einklang […]

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