on 2. Januar 2010 by Täglichläufer
Es ist vorbei. Die temporäre Existenzberechtigung des Jahres 2009 wurde aufgehoben und die omnipotente Herrscherin aus dem Reich der Erinnerungen hat sich seiner mit Hingabe bemächtigt. Vor uns liegt die Zukunft, eine hoffnungsvolle Zeit, die sich uns nach und nach enthüllen wird – bevor die Königin des Vergessens auch hier ihr Veto einlegen wird. Wir sollten das Morgen genießen, so genußvoll als möglich, denn der Kreuzzug der vergangenen Zukunft hat längst begonnen, dieses neue Jahr unbarmherzig zu verschlingen. Die Reise wird nie enden, sie führt uns in die Unendlichkeit, wenngleich wir als stille Beobachter nur einen Moment im Nichts daran teilhaben werden. Gelebte Endlichkeit. Umso essentieller das Auskosten des Seins, des Lebens.
In den letzten Tagen legte die Natur ihre weißen Ballkleider der Anmut an, es schneite ohne Unterlaß. Den einstmals natürlichen Schneemassen vor vielen Jahren längst entwöhnt, bewerten wir den heutigen Schneefall als eminent. In der Nacht vor Silvester kamen nochmals zehn Zentimeter dazu, die Welt ist weiß geworden. Traditionell bedingt, vollzog ich am Silvesterabend meinen üblichen zweiten Lauf. Jene Einheit war sehr kurz, dafür umso intensiver. Die Straßen leer, verlassen von der hektischen Betriebsamkeit der Spezies Mensch. Ich überlegte nicht lange, mein Laufziel lag evident vor mir, in den Wald – so schnell wie möglich in den dunklen, hellen Forst. Meine Schuhe versanken tief im Schnee, es knirschte nur leise, dieses eigentümliche Geräusch, geschuldet dem Niederschlag aus lieblichen Eiskristallen. Es war dunkel, der Himmel von graudüsteren Wolken regiert, die wild trunkener Energien ihre weiße Pracht mit Hingabe auf die Erde warfen. Die Schneeflocken kitzelten mein Antlitz, bevor sie zärtlich zu Boden glitten. Eine gedämpfte Atmosphäre von Harmonie in der unwirklichen Märchenwelt – nur durchbrochen von Feuerwerksraketen, die in Richtung Weltraum aufbrachen.
Nachdem ich den Wald verließ, blieb ich stehen, drehte mich um und blickte zurück. Scheinbar grundlose Fußabdrücke, die mit jeder vergehenden Sekunde behutsam vom stürmenden Wind zugeweht wurden. Links der Waldrand, rechts das nicht sichtbare Wasser, doch hörbar. Belebende Böen sandten unaufhörlich unstete Wellen an das Ufer. Der Schneefall erhöhte seine Intensität, ich blinzelte in den Himmel. Ich stand einfach nur da, schloß meine Augen, konzentrierte mich auf die fühlbaren Eindrücke. Einsam. In meinem weißen Laufareal. Das Dasein, das Leben, die Zeit hielten an – auf ihren Wegen, für einen Moment nur – und gleichzeitig erhöhten sie dennoch ihre atemberaubende Geschwindigkeit. Das war wieder so ein Augenblick, der sehr selten ist. Man kann diese Momente nicht suchen, nein, sie sind da, wenn man nicht damit rechnet. Entstehen aus dem Nichts und bevor sie sich wieder verflüchtigen, gestatten sie eine partielle Partizipation für den sensiblen, aufmerksamen Beobachter. Ich habe es wahrlich genossen. Das war er, der stillste Zeitpunkt im vergangenen Jahr. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte, nur wenige Minuten und doch kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Bevor ich mich nun komplett in einen Schneemann verwandelte, trat ich den Rückweg an, viel langsamer als nötig, aber den raren Moment würdigend, den besonderen Gefühlen angemessen. –
Der 01.01.2010. Stets der friedlichste Tag im Jahr. Ich weiß das zu schätzen, entsprechend frühzeitig absolviere ich meinen Lauf. Erneut hat das kalte Schneereich ungerührt expandiert, ich versinke tief in der leuchtenden Substanz. Auf der Brücke angekommen, werde ich nahezu erschlagen – von einer greifbaren Lautlosigkeit einer scheinbar verlassenen Zivilisation. Die grundsätzlich viel befahrene Hauptstraße dämmert in einer Art Zauberschlaf vor sich hin. Welch besondere Gnade, einmal im Jahr! Ich weiche sofort auf die Straße aus, da die Fuß- und Radwege alles andere als geräumt und somit gut passierbar sind. Nun kehre ich zurück, in den geliebten Forst. Auf den Wegen und zwischen den Bäumen stechen sofort mannigfaltige Spuren heraus. Kleine und große, verschiedene Formen, querfeldein in alle erdenklichen Richtungen; sie offenbaren die wirklichen Waldbewohner, doch von Rehen, Füchsen und Wildschweinen ist außer ihren Fährten nichts zu sehen. Versteckte Waldherren im Hintergrund. Ich spüre ihre Anwesenheit.
Die zahlreichen Äste der nun weiß gekleideten Bäume tragen eine schwere Last. Ich kann ihr Seufzen regelrecht hören, sie biegen sich unter der Schwere des Schnees und flehen mich um Hilfe an. Manche von ihnen sind der ungewohnten Belastung nicht gewachsen, ihr Zenit wurde überschritten und sie brachen in den Tod. Liegen nun danieder, welch surreale Anblicke einstiger Stärke. Eingefrorenes, totes Leben. Die sanfte Stimme der Einsamkeit säuselt wohlklingende Worte in mein Ohr, dazu gesellen sich die Ruhe des Waldes und das kristalline Wasser, es verschluckt jedes Geräusch. Ich rutsche oft weg, der Tiefschnee fordert seinen Tribut – mein Lauf wird zunehmend anstrengender wie konzentrierter. Mentales Laufen. Nichtsdestotrotz obsiegt die Freude an diesen außergewöhnlichen Witterungsverhältnissen.
Spaziergänger sind – noch – nicht unterwegs; nur die üblichen Hundebesitzer, die mich freudig mit Neujahrswünschen erschlagen. Kurze Gespräche entstehen, zumeist über die herrliche Schneepracht. Mittlerweile bin ich zum Damm vorgedrungen. Der Schwierigkeitsgrad erhöht sich, weil dort der Schnee nochmals höher ist, nicht geräumt wird und sich niemand weiter hergetraut hat. Wenige Meter vor mir prasseln unzählige Flocken auf den Boden, Flügel werden kräftig geschlagen und ein Fischreiher zieht entrüstet von dannen, doch nicht ohne die übliche Schimpfkanonade. Wo mag nur der Silberreiher sein? Ich werde ihn heute nicht zu Gesicht bekommen, ist er doch perfekt an seine derzeitige Umwelt angepaßt. Mein Weg führt mich an charmanten Weihern vorbei, auch sie sind winterlich gekleidet. Zahlreiche Stockenten schwimmen hin und her, sie flüchten nicht. Indes erreiche ich wieder den zauberhaften Schneewald und sofort erkenne ich, daß niemand weiter hier lustwandelte. Gelobte Abgeschiedenheit. Tierische Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Reise mag nie enden, mein harmonischer Lauf im Einklang mit der Natur und mit mir selbst leider schon. Unabhängig von der Distanz war er jedoch viel zu kurz, denn das Geschenk der auserwählten Winterpracht im Schneekostüm ist einzigartig. Die Natur ist an Schönheit nicht zu übertreffen – ich kann sie nur von Herzen lieben – und die mir dargebotenen Impressionen geistig wie körperlich absorbieren.