Während meines Rückweges näherte ich mich der einleitenden Schranke des Dammes, wenngleich noch etwas entfernt. Im Wald erspähte ich zuvor einen parkenden Kleinbus, der sogleich kausal mein Gesichtsausdruck verfinsterte, da ich grundsätzlich nicht nachvollziehen kann, was Autos im Wald verloren haben. Und auf dem Weg dorthin kamen mir einige Jugendliche entgegen, welches meiner Stimmung ebenfalls nicht sonderlich zuträglich war. Schließlich äußerte ich mich erst vor kurzem sehr kritisch über jenes Gebaren: „Sodann brüllten sie, lärmten, kreischten, lachten; Schreie gellten durch den Hain – sie rannten, brachen in das Unterholz, verließen die gewohnten Wege. Einige Jugendliche zeichneten sich durch exorbitantes natürliches Interesse aus; mit dem Handy spielend, die Zigarette lässig im Mund steckend, marschierten sie mit aktiviertem MP3 Player arrogant respektlos durch die Botanik.“ Wie sah der Forst anschließend aus? „Nun, muß ich noch erwähnen, wodurch sich der Rückweg auszeichnete? Abgerissene Blätter allenthalben, abgebrochene Zweige; kleinere zerstörte Bäume wie Sträucher, niedergetretene Pflanzen, Zigarettenkippen auf dem Waldweg und diverser anderer Müll.“
Doch heute sollte mein aufkeimendes Mißtrauen nicht bestätigt werden. Die Jugendlichen, welchen ich nun begegnete, waren allesamt „behindert“. Ein unwürdiges Wort; zu negativ assoziiert und inadäquat. Was bedeutet behindert? Wer definiert das? Mit welchem Recht? Wo sind die Grenzen? Was ist normal? Existiert das überhaupt? Normalität? In dieser Zeit? In dieser Gesellschaft? Und Welt? Wie dem auch sei, diese jungen Menschen fielen mir sofort in gegenteiliger, positiver Hinsicht auf. Sie waren außerordentlich ruhig, verhielten sich nahezu ehrfürchtig still, rannten nicht wild umher, hörten keine Musik und achteten den Pfad. Ja, sie besaßen Achtung – sie respektierten diese ihre Umwelt, dieses Habitat des Lebens. Ich konnte ihnen sofort ansehen, daß sie nicht gelangweilt oder genervt ob dieser herrlichen Natur waren, nein, für sie war der Ausflug ein richtiges Erlebnis, ein wahrer Höhepunkt. Ihre Gesichter haben sie verraten; ihre freudigen Augen. Ihr ehrliches Interesse und Staunen. Die Jugendlichen, die ich in meinem „Über das Versagen“ Artikel skizzierte, widerten mich nur an, aber diese sogenannten „Behinderten“, ja, mit ihnen fühlte ich mich verbunden.
Und ich gestehe, während ich an ihnen vorüber lief, verglich ich sie in Gedanken mit den „normalen“ Jugendlichen – wer kann es mir verdenken, daß ich mich in diesem Moment fragte, wer da eigentlich behindert ist? Für mich war es eine Freude zu erleben, mit welchem Respekt sie sich in der Natur bewegten und wiederum ihre gezeigte Freude zu beobachten. Gleichwohl wurden meine Gedanken latent getrübt, da sich zum einen mein Mitgefühl die Bahn brach und freilich die nicht neue Erkenntnis, wie fragil doch das Leben, die Gesundheit ist. Explizit auch in dem Kontext, daß ich seit über zehn Jahren täglich laufen darf. Doch wie schnell kann sich dies alles in das große Nichts verflüchtigen? Heute noch stark und routiniert und in einer Woche im Rollstuhl – so wie der junge Mann auf dem Damm, der lächelnd die Baumkronen beobachtet, wie sie sich behutsam im Wind bewegen, der zärtlichen Hand des Sturmes unterwerfen. Niemand ist vor nichts gefeit und die meisten Menschen beschäftigen sich erst mit derartigen Themen, wenn es zu spät ist. Viel zu spät.
Für mich war diese Jugendgruppe ein leuchtend herausragendes Beispiel. Auf den ersten Blick mögen sie vielleicht „behindert“ sein, aber während unserer kurzen Begegnung waren sie mir viel näher als damals die vermeintlichen normalen Jugendlichen. Die folgende wahre Anekdote veröffentliche ich hier wiederholt. Scheinbar konvergiert sie nicht mit dem zentralen Thema des Beitrages und doch, sie schließt sich nahtlos an und spannt den Bogen zum Laufsport, Sport per se. Sie verkörpert par excellence das, was ich unter „Sport“ verstehe, äquivalent Respekt und Achtung der Natur gegenüber und angemessenes Agieren in selbiger. Wie in der beobachteten Form der Jugendlichen auf dem Damm, mit ihrem elementaren Gefühl für das Wesentliche im Leben. Ein jeder möge dies für sich selbst interpretieren. Darüber kann man nachdenken. Oder auch nicht.
Vor langer Zeit starteten bei einer Leichtathletikveranstaltung neun Athleten zum Sprint über 100 Meter. Sie alle waren körperlich oder geistig behindert. Der Startschuß fiel und der Lauf begann. Nicht alle wollten die sogenannte Bestzeit laufen, aber alle wollten dabei sein und mit ein wenig Glück auch gewinnen. Als sie ein Drittel der Strecke hinter sich hatten, stolperte einer von ihnen, überschlug sich und fiel hin. Er begann zu weinen. Die anderen Acht hörten das, hielten inne und schauten sich um. Sie blieben stehen und gingen zurück. Alle. Ausnahmslos.
Eine junge Frau mit Down-Syndrom kniete bei ihm nieder, nahm ihn in die Arme und fragte: „Geht es dir jetzt besser?“ Anschließend gingen alle Neun gemeinsam über die Ziellinie. Schulter an Schulter. Das Publikum erhob sich von den Plätzen und applaudierte. Der Beifall währte sehr lange. Die das sahen, werden diese Szene nie vergessen können. Warum eigentlich?
Weil wir tief in uns wissen, daß es Wichtigeres im Leben gibt als zu gewinnen. Eines der wichtigsten Dinge in diesem Leben besteht darin, anderen Menschen zum Sieg zu verhelfen. Schwache Menschen zu unterstützen und ihnen beizustehen. Auch wenn das bedeutet, den eigenen Lauf zu verlangsamen oder seine Richtung zu ändern. Eine Kerze vergibt nichts, wenn sich eine andere an ihr entzündet.