Es war einmal. In der Tat, es war einmal – vor langer, langer Zeit. In einem Land, in dem es weit und breit keine Berge gab, nicht einmal Hügel; die urtümlichen Ureinwohner nannten sich Preußen. Dort lebte einst der Täglichläufer, der – wie könnte es anders sein? – sich täglich dem dekadenten Laufgenuß mit Liebe hingab. In seiner Anfangszeit löste dies mannigfaltiges Entsetzen aus, schließlich war die dortige Bürgerschaft ein getreues Abbild der herrschenden Gesellschaft und entsprechend bequem, bewegungsfaul und in ihrer Weltsicht – wie Interpretation derselben durchaus beschränkt respektive in einem starren Denken gefangen. Sodann generierte dieser Täglichläufer neuerliches Entsetzen, als er sich im Winter – nicht wie alle anderen Bürger – vollkommen inadäquat übertrieben kleidete. Die oben zitierte Gemeinschaft war zudem von grundauf verweichlicht. Und so herrschte abermals das blanke Entsetzen.
Viele Jahre zogen in das weite Land. Nach vielfältigen Reaktionen, das Gros wandelte sich jedoch in eine positive Wahrnehmung – gehörte jener Täglichläufer zum Stadtbild. Er wurde nicht mehr in einem exponierten Rahmen wahrgenommen. Nach einer Dekade war man einfach daran gewöhnt. Und ja, ich habe mir meine täglichen Beobachter ein wenig „erzogen“. Oh, halt, schrieb ich eben „ich“? Pardon, ich meinte natürlich „er“. Doch nun erlebte der Täglichläufer vor einigen Tagen erneutes Entsetzen. Der Grund hierfür manifestiert sich in der anhaltenden Kältephase, welche durchweg in einem zweistelligen Minusgradbereich lieblich reizt. In der Konsequenz läuft besagter Täglichläufer derzeit in langen Gewändern. Natürlich ohne Kopfbedeckung – dies versteht sich von selbst. So amüsierte sich ein langjähriger Grußfreund von mir, als er mich in langer Bekleidung erkannte und eine weitere Bekannte schrie ihr nacktes Entsetzen bereits lauthals in die Welt hinaus – als ich noch gut 20 Meter entfernt war. Ja, sie war regelrecht enttäuscht. Der wiederholte Rückfall in die erste Person möge man mir an dieser Stelle verzeihen.
Wohin ich auch laufe, ich werde nun oft von entsetzlichen Rufen des Schreckens begleitet, denn wie kann ich auch nur wagen, in langer Bekleidung mein Täglichlaufen zu praktizieren? Mich selbst erstaunt nur, wie viel Macht doch in der langjährigen Gewohnheit innewohnt und wie sich das Bild schlußendlich in das Gegenteil verkehrt hat. Früher war jeder ob meiner kurzen Sachen verblüfft und heute wundern sich die gleichen Personen, wenn ich mich der elementaren Verhältnismäßigkeit anpasse. So sei es. Doch welche Kälte meine ich eigentlich? Diese törichte Jammerei, die so viele Menschen derzeit an den Tag legen, nur weil die Temperaturen in Regionen von -17 °C oder auch -20 °C vorstießen, kann ich nicht mehr hören. Bereits meine Großeltern würden nur entsetzt lachen, angesichts der Tatsache, wie die Gesellschaft leidet – bei diesem vielleicht heute nicht mehr „üblichen“, aber letztendlich eher schwach ausgeprägten Winter. Da ist es wieder, das Entsetzen. Entsetzlich. Von meinen Urgroßeltern ganz zu schweigen. Unsere Gesellschaft in Deutschland. Sie wird immer weicher, unleidlicher, noch bewegungsärmer, kränker und bequemer. Allein, mit gesunden und gut trainierten Menschen läßt sich eben nur schwer Geld verdienen. – –
Ich laufe in der zärtlichen Kälte, genieße die behagliche Frische, das Thermometer tendiert gegen -20 °C und die prachtvolle Sonne leuchtet erhaben zwischen den hohen Baumkronen hernieder. Ich verlasse die sonst so von mir präferierte Dammstrecke und betrete den zugefrorenen See, laufe auf dem Eis. Ein Glitzermeer von zahllosen Eisdiamanten strahlt im goldenen Sonnenglanz der temporären Unendlichkeit. Mein Weg führt mich hinter den stillen Schilfwäldern entlang, weiter und weiter. Irgendwann unterbreche ich meinen Lauf, hocke mich hin und spähe durch die dicke eingefrorene Wasserschicht; das Wasser ist klar und ich kann bis zu dem Grund blicken, indessen bin ich umgeben von Legionen funkelnder Kristalle, gebrochen im solaren Licht. Erstarrte Bewegung. Ich beobachte den Seeboden und verliere mich in andere Zeiten und Welten…