Vergangenen Sonntag. Als ich die kleine Brücke im Laufschritt passiert hatte, kam mir ein kleines Mädchen – vielleicht zehn Jahre alt – mit dem Fahrrad entgegen. Sie strahlte mich an und grüßte mich unbekannterweise ganz freundlich: „Halloooooooo!“. Der Auftakt zu einem Grußreigen. Anschließend traf ich zwei Damen, welche sich ihrer Nordic-Walking Leidenschaft hingaben; es folgten ein paar nette Worte. Später wurden Grußformeln mit den Haltern von Rottweiler Bow, Schäferhund Artus und Goldie Emma ausgetauscht. Bei den Besitzern von Schäferhund Cocy hielt ich an und wir unterhielten uns lebhaft, ebenso mit der Halterin von Judy – danach wurde ich lauthals von einem Mitglied des Bootsvereines begrüßt. Ein sich wiederholendes Prozedere. Nahezu täglich.
Menschen kommen. Zu Beginn achtet man wenig bis gar nicht auf die spazierenden Personen, denen man täglich begegnet; unauffällig zieht jeder leise seine Wege. In Gesellschaft doch allein. Mit der fortschreitenden Zeit und einer gelebten Regelmäßigkeit werden sie zu bekannten Gesichtern; erste Grüße werden gewechselt, später erscheinen die Menschen seltsam bekannt. Im Laufe der Jahre entwickelt sich eine lose „Vertrautheit“ und ich komme selten ohne Gesprächspausen an ihnen vorbei. Die Freude beruht auf Gegenseitigkeit und sobald einmal die Laufzeiten variieren, werde ich sofort vermißt. Selbst Menschen bei denen der Erstkontakt auf Grund eines Hundeangriffes latent negativ ausfiel, wurden zu Grußfreunden. Alles ist möglich. Dies bezieht sich auch auf Sportler, sofern die Laufrichtung identisch ist und sich somit Unterredungen etablieren können.
Menschen gehen. Die von mir beschriebenen Begegnungen sind natürlich nicht statisch in ihrer Gesamtheit. Das Leben vollzieht eine kontinuierliche Varianz – ein unaufhörliches Wechselspiel. Neue Menschen erscheinen auf der Bildfläche, die ebenfalls mit der Zeit zu Vertrauten werden. Währenddessen langjährige Bekannte spurlos verschwinden – auf einmal sind sie nicht mehr da, tragischer noch! – sie sind nicht mehr existent – ein leiser Prozeß, der sich manchmal nur beschwerlich in das höhere Bewußtsein drängt. Ihr Fehlen offenbart sich dann in einer unerwarteten und erschreckenden Evidenz, die sich urplötzlich aus dem Nichts manifestiert. Ausgetauscht im kuriosen Spiel des Lebens. Vor jedem Lauf frage ich mich, auf wen ich heute wohl treffen werde. Und wen ich nie mehr grüßend und lächelnd sehen werde. Wer ist der nächste vakante Spieler?
Vor sieben Jahren traf ich eine Läuferin, mit der ich einige Male gemeinsam lief. Nachdem meine Laufstrecke von der Stadt vernichtet wurde, wechselte ich das Areal und ich sah sie nicht wieder. In der letzten Woche unterhielt ich mich mit einer Grußfreundin, die seit nun mehr zwei Jahren ihren Hund dort ausführt. Sie erinnerte mich an die einstige Läuferin, wenngleich sich ihr Aussehen verändert hat. In unserer Unterhaltung sagte sie auf einmal zu mir: „Weißt Du eigentlich noch, Marcus, daß wir schon zusammen liefen?“ – Damit wurde meine Ahnung bestätigt, entsprechend reagierte ich: „Natürlich Bianca, das war 2002.“ Welch Überraschung! Erstaunlich auch die Auswirkungen fern jeglicher Laufwelt. Einst sprach mich ein unbekannter Mann beim Fahrradkauf an, ob ich nun die Laufschuhe durch ein Fahrrad zu ersetzen gedenke. Oder ein wildfremder Mann, der mich auf der Straße ansprach: „Ich beobachte Sie!“ – nachfolgend führten wir ein ausführliches Gespräch über mein Täglichlaufen. Personen, die mir vorher in keiner Form auffielen. Nur wenige von zahllosen Beispielen, die zu interessanten Erinnerungen wurden und somit Eingang in meine Laufdatei fanden. Ein kostbarer Schatz erlebter Jahre!
So sehr ich diese Treffen auch schätze, die exponierten Höhepunkte offenbaren sich für mich stets in einer absoluten Einsamkeit. Nur die Natur und ich. Allein. Den unwirklichsten Witterungsverhältnissen in Freiheit ausgesetzt. Dennoch, wir Menschen kommen und gehen – aber die Natur und die Zeit werden bleiben. Für immer und immer. Eine allumfassende Entität von einer betroffenen Wahrheit, die zu einer verwundbaren Zukunft und zu melancholischen Erinnerungen führt. Täglichlaufen bedeutet auch immer eine gewisse Interaktion mit der vorherrschenden Umwelt, mit seinen Mitmenschen – zumeist ein freudiges Unterfangen, doch hin und wieder auch von Trauer dominiert. Sofern die sensible Wahrnehmung geschult ist, kann man dem nicht entkommen, was ich auch nicht will. Das unerbittliche Rad des Lebens wirkt selbst auf die banalsten Dinge unserer temporären Existenz ein. Eine tröstende wie erschreckende Erkenntnis. Laufen wir. Genießen wir. Unser bescheidenes Dasein. Das Jetzt. Denn im nächsten Moment ist es schon vorbei – vielleicht für immer. Möglicherweise ein Anlaß zu überdenken, was wirklich wichtig ist im Leben – diesem, unserem lächerlichen Augenblick in der Unendlichkeit.