Am vergangenen Sonntag führten verschiedene Ursachen zu einer konzentrierten Überlastung meiner körperlichen Systeme, die adäquat mit einer temporären Notabschaltung reagierten. Ich konnte vier Gründe identifizieren, die kausal dafür verantwortlich zeichneten. Jeder für sich genommen, stellte keine Bedrohung dar. Doch in der Summe addiert, war die Konsequenz nur allzu logisch. Es war ein sorgloser Fehler, keine Verknüpfung zu etablieren. Einen jener Gründe – zolle ich nun den angemessenen Tribut und übe mich in distanzierter Zurückhaltung. Das Augenmerk sollte hierbei auf den Terminus Distanz liegen. In den letzten Tagen bemühte ich mich um schonende Gesundheitsläufe; ich absolvierte nur verkürzte Strecken und auch mein Vorprogramm habe ich merklich reduziert.
In Fesseln gelegte Kraft. Innere Energie. Unbändig und vollem ungestümen Zorn und dennoch brutal in Ketten gezwängt. Es fiel und fällt mir eklatant schwer, diese Selbstbeschränkung durchzuhalten. Doch das Wissen um die Alternative ließ mir keine andere Wahl – jene wage ich nicht zu präferieren. Dessenungeachtet gelang es mir den akuten Widrigkeiten zum Trotz mit dem heutigen Lauf von sechs Kilometern mein Halbjahresjubiläum zu verwirklichen. Somit erhöht sich das unbedeutende Nebenprodukt meiner Täglichlaufphilosophie auf –Acht Jahre und Sechs Monate– täglichen Laufens. Jeden Tag. Ausnahmslos.
Endlich wieder zurück auf meinem Damm! Nur noch bis zum nächsten Baum, ein paar Meter bis zur kommenden Biegung. Die Augen geschlossen; die Sonne fühlend, wie sie die spätsommerlichen Baumkronen durchbricht und mein Antlitz kitzelt. Doch ich kehre um, noch bin ich vorsichtig. Das bisher unzugängliche Tor, welches den Weg in das neunte Jahr freigibt, wurde heute mit einem lauten Knarzen aufgestoßen – wenngleich selbiges derzeit leicht eingerostet erscheint. Umso größer der Stolz, daß mein Willen und meine Selbstdisziplin geneigt sind, mein Denken im Fortbestehen weiterhin zu unterstützen. Ich gestehe, dafür bin ich extrem dankbar. Denn Täglichlaufen ist wahrhaftig ein Geschenk, in erster Linie meines Körpers an mich selbst – und umgekehrt. Die Ebene, auf der die Vorstellung ihren Ursprung hat, auch nur einen Tag zu pausieren, habe ich seit langem verlassen. Natürlich währt nichts ewig, alles hat seine Zeit – für mich das gewichtigste Argument, die Endlichkeit meiner Laufkonzeption täglich zu feiern – mit einem entsprechenden Lauf in der von mir so geliebten Natur. Den Genuß so lange zu leben, wie er realisierbar ist.
Als Sinnbild dieser Symbiose habe ich folgenden Baum ausgewählt. Irgendwann war er da. Er war ganz klein und reckte sich neugierig gen Himmel, er wuchs edel in die Höhe und ging scheinbar eine symbiotische Verbindung mit dem steinernen Gebilde ein. Äquivalent mein Täglichlaufen. Wie das Gebäude konnte auch ich die Entwicklung des Täglichlaufens, respektive des Baumes weder planen noch bewußt beeinflussen. Das hätte ich auch gar nicht gewollt. Wie auch? Erstens nahm ich das zu Beginn nicht in der Form wahr wie ich es heute tue und zweitens wurde ich dadurch ein anderer Mensch. So wie sich der Baum liebevoll an das Gebäude schmiegt, gehört das Täglichlaufen ebenfalls zu mir. Beide bilden eine harmonische Einheit, doch ist der Nutzen für mich weitaus bedeutender – als es das Baumgebilde möglicherweise in meinem Beispiel erfährt. Der Bund ist zeitlich begrenzt – irgendwann wird er auseinander fallen, ja, muß auseinander brechen – denn so ist der Lauf des Lebens. Die Kunst liegt in der Wertschätzung solange er besteht. Und ihn nicht erst zu achten, wenn meine natürliche Konzeption ihr Ende gefunden hat.
Gerade im Kontext der erlebten Schwierigkeiten, die automatisch damit einhergehen. Stets sprach ich davon, wie fragil das gesundheitliche Konstrukt ist und einmal mehr wurde mir das vor wenigen Tagen eindrucksvoll demonstriert. Freilich hätte ich mich gänzlich der vernünftigen Ruhe hingeben können. Oder mal eben so auf der Stelle laufen und das als Täglichkaufen betrachten, was es durchaus geben soll. Aber wo läge da der Ernst? Der gelebte Sinn meines Denkens? Bliebe dann nicht mein Stolz, meine Freude über das Erreichte auf der Strecke? Die Ehrlichkeit zu mir selbst? Der Triumph über mich selbst? All die gemeisterten Herausforderungen würden ihrer Würde beraubt. Trotz partieller Probleme, die hin und wieder auftreten, ja, auftreten müssen – darf man nicht verzagen und sollte seiner Konzeption treu bleiben. Natürlich in einem vertretbaren Rahmen, welcher der Gesundheit geschuldet sein sollte – was selbstredend wiederum eine individuelle Geschichte ist. Das ist jene Selbstdisziplin, die durch das Täglichlaufen ebenso eingefordert wie forciert wird. Beides bedingt einander. Die Grundlage dessen, worauf der Wert des Täglichlaufens in meinen Augen basiert. Mehrheitlich genießen, aber wenn die Zeit reif ist – auch Härte zu sich selbst zeigen. Jahrelanges Täglichlaufen ohne mentale wie körperliche Herausforderungen ist eine reine Illusion. Ein stetes Ringen mit sich selbst ist vonnöten, um dem Stil seine individuelle Legitimation zu verleihen. Cui dislet meminit.
Hierbei definiere ich die gezählten Jahre wie Tage einmal mehr als Beiwerk. Die Zahlen an sich sind irrelevant. Es geht nicht um ein Zählen oder Vergleichen. Sondern um die Erkenntnis, daß es möglich ist, täglich zu laufen. Jeden Tag. Heute. Immer nur heute. Als ein Sieg über sich selbst. Gegen seine eigene Unzulänglichkeit aus Überzeugung. Wenn man denn will. Wenn man in dem Stil seine Zufriedenheit findet. Wenn es statt Zwang Liebe ist. Wenn man die Ritualphase überwunden hat. Über eine Verinnerlichung hinaus ist. Ja, auch wenn es ein schweres Wort ist – beinahe schon unangemessen, handelt es sich doch nur um banales Laufen – wenn es zu einer Art Lebenseinstellung geworden ist. Die Einsicht dieser beschriebenen Gratwanderung ermöglicht mir das Täglichlaufen zu leben. Wie lange noch? Nur heute. Immer nur heute.
Die Vergangenheit ist ohne Leben, die Gegenwart fast vergessen und die Zukunft ist noch nicht geboren. Die Fortführung kann in jeder Sekunde ihren Schlußpunkt finden. Aber das stolze Gefühl, wie die vergangenen Jahre bravourös in das unendliche Nichts eingezogen sind – mit all ihren prächtigen und harten Erlebnissen, mit Lachen und Weinen, im Licht und Schatten als eine Verkörperung von Freud und Leid bilden für mich trotz allem ein schönes Gefühl, welches ich nicht missen will. Gerade auch die Widrigkeiten tragen das ihrige dazu bei. Zu wissen, daß ein unsportlicher Mensch acht Jahre und sechs Monate jeden Tag laufen kann, ist ein großartiges Gefühl. Ich weiß nicht, ob ich neun Jahre erreichen werde. Ebenso weiß ich nicht, ob ich morgen laufen werde – laufen kann und laufen darf. Zahllose Faktoren entziehen sich meinem Einfluß. Einst rechnete ich nicht einmal mit zwei Jahren. Gleichwohl bestimmte das kuriose Leben mich vom Antisportler – der glücklicherweise immer noch in mir existiert – zum Täglichläufer. Und so werde ich auch weiterhin meine tägliche Runde drehen; mal weiter – mal kürzer. Die intensivste Ruhephase des Tages – als ein Hort der inneren Zufriedenheit und vollkommenen Harmonie. In natürlicher Ruhe. Über Jahre. Es ist möglich.
Täglichlaufen und ich. Eine diffizile Einheit, die ich von Zeit zu Zeit kritisch hinterfrage und in Verbindung mit Zweifeln betrachte. Eine konstante Neubewertung ist für mich obligat. Das Fazit konzentriert sich in der Frage, was die richtige Entscheidung für mich und meinen Körper ist. Bisher fielen die Antworten für mich – nach reiflicher Überlegung – evident aus, wenn das auch bei Außenstehenden nur Unverständnis auslöst. Aber wie könnte mich auch jemand verstehen, der diesen Weg der Höhen und Tiefen nicht täglich gemeinsam mit mir gegangen ist? Wahres Verständnis setzt die gleiche Erfahrung voraus. Ich maße mir nicht an, von anderen Menschen Verständnis zu erwarten. Das Leben hat Recht.
Ich werde auch in der Zukunft mein tägliches Laufen praktizieren. Solange sich die etwaigen gesundheitlichen Hürden überwinden lassen, werde ich es tun. Die Meßlatte, bei Hindernissen aufzuhören, hat sich in den absolvierten Täglichlaufjahren signifikant erhöht, die Grenzen sind andere als noch vor fünf oder sieben Jahren. Eine unabdingbare Folge meiner Entwicklung. Der menschliche Körper mag zwar schwach sein, gleichwohl ist er widerstandsfähiger und stärker als sich die meisten Menschen dies überhaupt vorstellen können. Um mein Denken zu verdeutlichen, schließe ich mit einer Anekdote. Und ich lasse mich überraschen, welche Erlebnisse auf dem endgültigen Pfad in das neunte Jahr auf mich zukommen werden. Ich bin bereit. Täglichlaufen. Ein großartiges Gefühl. Und es wird immer wunderbarer, sobald ich in die Vergangenheit zurückblicke. Mit einem zufriedenen Lächeln blicke ich zurück. Täglichlaufen. Mein Weg. Nichts ist jemals einfach.
Eines Tages erschien eine kleine Öffnung in einem Kokon. Ein Mann beobachtete den zukünftigen Schmetterling mehrere Stunden lang, wie dieser kämpfte, um seinen Körper durch jenes winzige Loch zu zwängen. Dann plötzlich schien er nicht mehr weiter zu kommen. Es schien, als ob er so weit gekommen war wie es ging, aber jetzt aus eigener Kraft nicht mehr weitermachen konnte. Er war am Ende. Scheinbar. So beschloß der Mann, ihm zu helfen: er nahm eine Schere und schnitt den Kokon auf.
Der Schmetterling kam dadurch sehr leicht heraus. Aber er hatte einen verkrüppelten Körper; er war winzig und hatte verschrumpelte Flügel. Der Mann beobachtete das Geschehen weiter, weil er erwartete, daß die Flügel sich jeden Moment öffnen, sich vergrößern und sich ausdehnen würden, um den Körper des Schmetterlings zu stützen und ihm Spannkraft zu verleihen. Aber nichts davon geschah. Stattdessen verbrachte der Schmetterling den Rest seines Lebens krabbelnd mit einem verkrüppelten Körper und verschrumpelten Flügeln. Niemals war er fähig zu fliegen. Totes Leben. Fern der Freiheit.
Was der Mann, in seiner Güte und seinem Wohlwollen nicht verstand war, daß der begrenzende Kokon und das Ringen, das erforderlich ist, damit der Schmetterling durch die kleine Öffnung kam, der Weg der Natur ist, um Flüssigkeit vom Körper des Schmetterlings in seine Flügel zu fördern. Dadurch wird er auf den Flug vorbereitet sobald er seine Freiheit aus dem Kokon erreicht. Manchmal ist das Ringen genau das, was wir in unserem Leben benötigen. Wenn wir durch unser Leben ohne Hindernisse gehen dürften, würde es uns lahm legen. Wir wären nicht so stark, wie wir sein könnten, und niemals fähig zu fliegen.
Ich wünschte mir Kraft. Und mir wurden Schwierigkeiten gegeben, um mich stark zu machen. Ich wünschte mir Weisheit. Und mir wurden Probleme gegeben, um sie zu lösen und dadurch Weisheit zu erlangen. Ich wünschte mir Mut. Und mir wurden Hindernisse gegeben, um sie zu überwinden. Ich wünschte mir Liebe. Und mir wurden besorgte, unruhige Menschen mit Problemen gegeben, um Ihnen beizustehen. Ich wünschte mir Entscheidungen. Und mir wurden Gelegenheiten gegeben.
Ich bekam nichts, was ich wollte – aber ich bekam alles, was ich brauchte.