Der 18.09.2012: 15 Kilometer, belebende 09 °C – 3658 Jahreskilometer. Täglichlaufen. Stolze Elf Jahre, Sechs Monate. In der Tat habe ich diesen neuerlichen Akt der Selbsterkenntnis vollzogen, die Herausforderung bravourös gemeistert – so es denn eine war, und mein Halbjahresjubiläum realisiert. Dem Anlaß Rechnung getragen, lief ich heute standesgemäß in weißer Bekleidung. Scheinbar erst gestern erlebte ich die einzigartige Zäsur von zehn Jahren Täglichlaufen in Serie und ohne allzu tiefes Sinnieren schloß sich nahezu unmittelbar die elfjährige Feierlichkeit an und nun sind bereits weitere sechs Monate für alle Zeiten in die unendliche Vergänglichkeit eisern verbannt. Ohne Wiederkehr. Erschreckend, wie rasant sich die Zeit verflüchtigt. Und erschreckend, wie intensiv sich das Täglichlaufen mit meiner Person verwoben hat. Einst wurde es zu einer banalen Gewohnheit – ohne es je bewußt zu wollen oder gar zu forcieren – temporär zu einer ungeliebten, um sich später immer gehaltvoller zu entfalten und zu entwickeln. Aus den losen Fäden der Gewohnheit wurde ein Netz der stabilen Routine und irgendwann erwuchs daraus eine Art von Liebe, die sich hernach in eine latente Lebenseinstellung wandelte. Und heute? Nun, das imaginäre Netz besteht weiterhin, doch die filigranen Fäden sind verzaubert worden, denn jetzt bestehen sie aus diamatenen Seilen, die sich nur noch schwer lösen lassen – natürlich lasse ich das tödliche Schwert der Gesundheit an dieser Stelle außen vor, welches jenes Netz mit lächelnder Leichtigkeit zerteilen könnte und eines Tages unbarmherzig werden wird.
Oder mit anderen Worten formuliert, es ist beängstigend, wie mächtig mein Täglichlaufen zu mir, zu meinem Ich dazu gehört; denn in naher oder ferner Zukunft wird und muß meine Konzeption ihren logischen Schlußpunkt finden – dessen bin ich mir bewußt. Dieser Tag wird zu einer wahren Herausforderung werden, da ein Teil meiner Selbst sich auflösen wird, was nach all den Jahren freilich keine neue Erkenntnis für mich ist. Wie dem auch sei, heute werde ich feiern und keine ausufernden Gedanken in die nicht existente Zukunft investieren, die ungeachtet derartiger Jubiläen auftreten müssen. Eine Selbstreflexion in Maßen ist essentiell für diese Philosophie und schützt vor diversen Torheiten.
Noch immer betrachte ich mein Täglichlaufen als ein einmaliges Geschenk, welches mir einst zuteil wurde; eine Gnade, die ich nicht in inadäquate Worte kleiden will und in seltenen Momenten nur diffizil ermessen kann. Nach über elf Jahren darf ich nun die Aussage tätigen, daß mein Körper offensichtlich dem Täglichlaufen würdig ist – den Antisportler in mir will ich hierbei gar nicht negieren. Dies mag konträr anmuten, aber auch das gehört nach wie vor zu mir. Und schlußendlich ist Täglichlaufen ein einziger Widerspruch in sich. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ausgerechnet ich zum Täglichläufer mutieren und dann mit diesem meinem gelebten Stil noch die Erde im Laufschritt umrunden würde; wo ist nur die Person geblieben, die einst nach 100 Metern Laufen körperlich am Ende war? Mental lebt sie immer noch. Welch Glück! Das Leben ist seltsam. Nun gehört es bereits so lange zu meinem Leben und ich möchte nicht einen Tag davon missen, auch die unangenehmsten davon nicht. Gerade erst die gesundheitlichen Widrigkeiten, die glücklicherweise nicht in der Majorität obsiegen, haben zu der exponierten Festigkeit des ehernen Netzes der Grundpfeiler beigetragen und mich entsprechend geformt. Und wie langweilig wäre das Täglichlaufen auch, wenn es nur Spaß und Freude bereiten würde? Wer will immer nur Freude?
Die Jahreszahlen, welche meine „Serie“ symbolisieren, wirken partiell surreal. Es ist bemerkenswert, welche Ebene ich aktuell erreicht habe und doch wollte ich immer nur heute laufen. Nur heute! Wie oft habe ich diesen Satz nun gedacht, gesagt und vor allem – in die Tat umgesetzt!? Vielleicht wird manch einer zum Täglichläufer, um eine besonders lange „Serie“ zu erreichen. Doch diese Zielsetzung ist für mich bedeutungslos – zumal der Ansatz nach meiner Betrachtung langfristig keine Option bietet. Wenngleich ich dieses unzulängliche Konstrukt hier mit einer eigenen Seite „ehre“, so ist sie nur das unbedeutende Nebenprodukt meines Handelns, was natürlich unvermeidlich ist. Sie bringt nur schnöde Zahlen zum Ausdruck, aber der wahre Hintergrund bleibt im wabernden Nebel verborgen. Das wahre Täglichlaufen läßt sich nicht beschreiben, da es sich hierbei um ein Gefühl handelt, mit entsprechend vielen positiven und einigen negativen Nebenwirkungen. Auf letztere gehe ich heute nicht ein. Vielleicht kommen Stärke und Glücklichsein dem am nächsten. Wer ebenfalls elf Jahre Täglichlaufen absolviert hat, wird mich verstehen – oder auch nicht, da jeder Weg einzigartig ist. So wie das Leben selbst.
So vergeht Tag um Tag und Jahr um Jahr. Vielleicht gelingt es mir, zwölf Jahre zu vollenden; ich würde es mir wünschen, aber das ist natürlich kein Ziel. Doch wohin die nebulöse Reise gehen wird, wird sich zeigen. Mein Lied vom Täglichlaufen kann noch Jahre andauern oder zwei Tage. Ich kann mich nur der gnadenlosen Lehrmeisterin der Zeit unterwerfen. Allein, habe ich eine andere Wahl? Solange ich kann und darf, werde ich diese meine Liebe praktizieren und die Ballade mit Hingabe komponieren. Der Weißwein für heute Abend ist kaltgestellt, ich werde auf elf Jahre und sechs Monate anstoßen und jene vergangene Phase geistig Revue passieren lassen, reich mit mannigfaltigen Erinnerungen. – – Finstere Sturmmächte umarmen mich zärtlich, verschlingen mich scheinbar ungestüm und entführen mich reizend in die ihre Welt; in eine herbstliche, natürliche Welt voller Leben, Zufriedenheit, Freiheit und Glück und sie wartet nur auf eines – daß ich täglich im Laufschritt lächelnd an ihr partizipiere. Entführt in die einsame Weite des Firmaments der vergänglichen Unendlichkeit im Zeichen der sich hernieder senkenden Sonne, geborgen in der melancholischen Romantik, die ihresgleichen sucht. Ich lebe es, weil ich es liebe und liebe es, weil ich es lebe.