on 31. August 2011 by Täglichläufer
Vorsichtig krabbelte die kleine eusoziale Ameise über den unerkundeten Waldboden, die große, weite Welt immerdar im Blick haltend, eroberte sie Schritt um Schritt unbekanntes Terrain. Nicht weit entfernt, stets in olfaktorischer Reichweite im Pheromon-Kontext folgten ihre zahlreichen Kollegen – Familienangehörige oder Freunde aus dem exorbitant riesigen Kollektiv. So setzte sie engagiert ihren Weg fort, den grünen Hain erkundend. Auf der Suche nach Nahrung, natürlich. Plötzlich vernahm sie mit ihren feinfühligen Sinnen ein Vibrieren, erst leise und kaum wahrnehmbar; anschließend sich intensivierend und näher kommend. Sie hielt inne, prüfte die ihre Welt der Perzeption und beobachtete. Einige Körner im losen Sand rieselten hernieder, dann kam das schwarze Etwas donnernd in ihre Richtung. Sie blickte jählings nach oben und ward aus ihrer winzigen Sicht einen Riesen gewahr, der nahezu in Lichtgeschwindigkeit auf sie zu stürmte. Lichtgeschwindigkeit? Nein, noch viel rasanter, fürwahr in bahnbrechender Vehemenz – zumindest aus ihrer Perspektive heraus. Vor Schreck stand sie still und just dies sollte ihre Rettung sein. Der düstere Schatten senkte sich herab, doch sie hatte Glück – unmittelbar neben ihr materialisierte sich der Abdruck der Vernichtung. Tiefe Spuren in einem Abstand von über einem Meter im Sand hinterlassend raste die finstere Erscheinung vorüber und ach, wie groß war das Leid! – einige Freunde unter sich begrabend. Zertreten von jenem rücksichtslosen Etwas, welches die Ameisen nicht einmal registrierte. Aus dem nichts erschienen und schon längst wieder verschwunden. Kollektive Trauerstunde im Staat.
Nicht weit davon entfernt, immer noch im tiefen Forst huschte ein flinkes Eichhörnchen im Unterholz munter durch den Wald und sprang geschwind hier und dort über die unebenen Pfade, auf diesen oder jenen Ast in Perfektion balancierend. Auch die Eichhörnchendame sah die nicht wirklich ungewohnte Präsenz auf sich zu rennen, allein erschien ihr die Kreatur nicht gar so riesig und schlußendlich obsiegte die Neugierde. Sie versteckte sich hinter einem Baumstamm, lugte spitzbübisch hervor und beobachtete die nahende Dunkelheit. Selbige schwenkte das offenkundig unabhängige Oberteil in ihre Richtung und verlangsamte die Geschwindigkeit bis sie bewegungslos verharrte. Indessen mehrere Ameisen schleunigst schreckhaft wissend von dannen zogen. Sodann vernahm das Eichhörnchen surreale Laute aus dem schwenkbaren Haupt, es hörte sich an wie: „Na, mein kleiner Wuschelputz?“, „Du bist ja ein süßes Kerlchen“, „Und sooo neugierig bist du“. Nun, weder war das Eichhörnchenmädchen ein Kerl noch ein Kerlchen und schon gar nicht neugierig!, zusätzlich verstand sie das menschliche Kauderwelsch per se nicht. Eins, zwei fix und schon erklomm die geschickte Sohlengängerin unbekümmert den hohen Baum und wunderte sich weiterhin über diese seltsame Begegnung mit der einhergehenden bewußten Aufmerksamkeit. Indessen das finstere Wesen mit seinem beweglichen, plappernden Kopf in hoher Fahrt davon lief. Was für eine komische Welt!
Die uns bereits bekannte Ameise hingegen, freute sich ob der Tatsache, daß es nun endgültig verschwand, wenn auch nur bis zu dem nächsten Tag. Derweil kreiste hoch oben ein edler Bussard erhaben am blauen Firmament, stieß seine eigentümlichen Schreie aus und spähte nach schmackhafter Beute in die Tiefen herab. Irgendwann ließ er sich im Hochwasserschutzgebiet auf einem ehemaligen nur noch zur Hälfte bestehenden Hochstand nieder und beobachtete aufmerksam sein Areal. Bereits mehrere hundert Meter entfernt, erkannte er den dunkel gekleideten Menschen, der täglich sein Beutegebiet unsicher macht, gleichwohl er nie in Konkurrenz zu ihm trat und jagte. Sein Glück! Dennoch, die seit Jahren tägliche Präsenz besitzt durchaus einen nervenden Charakter. Könnte er nicht einmal einen Tag aussetzen? Er ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Und als der Läufer auf drei Meter heran war, entschied der stolze Greifvogel ruhig sitzen zu bleiben, schließlich ging bis dato keine Gefahr von dem permanent wiederkehrenden Menschen aus. Jener unterbrach mittlerweile seinen Lauf, um auch hier wieder das prächtige Tier anzureden: „Naa, meine Schöne?“. Glücklicherweise währte die Pause nur einen kurzen Moment, so daß der Bussard diesen überflüssigen Kommentar standesgemäß ignorieren konnte. So verschwand er im Anschluß, ja, wer eigentlich? Welch – auch hier – obsolete Frage, natürlich.
Drei Beispiele aus meiner Welt des gelebten Täglichlaufens. Freilich aus einer perspektivenhaften Metamorphose heraus. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, von schreckhaften Schwänen über zutiefst beleidigte und schimpfende Fischreiher („Schon wieder der Täglichläufer, immer muß er mich erschrecken und vertreiben!“) bis hin zu schnatternden Graugänsen, schönen Rotfüchsen, jungen Rehen und grunzenden Schwarzkitteln. Viele Waldbewohner bleiben in der Majorität verborgen, indes andere fast täglich zu erspähen sind. Manche nimmt man bewußt wahr, andere selten bis nie. Und leider fallen einige Wesen dem Tod anheim, schlichtweg der Tatsache geschuldet, daß sie auf Grund ihrer winzigen Größe ungewollt unter den Laufschuhen verschwinden. Demungeachtet bewege ich mich mehrheitlich aufmerksam wie bewußt und mit Respekt im tiefen Wald, versuche beispielsweise größeren Insekten auszuweichen und die Waldbewohner nicht all zu sehr in ihrem Habitat zu stören und durchaus ändere ich meinen Weg, wenn eine Graugans oder ein Reh auf dem Pfad innehält – denn sie sind die wahren Herrscher in den natürlichen Gefilden, es ist ihr Zuhause, ihr Heim. Ich – bin nur der Eindringling. Dessen bin ich mir bewußt. – –
Wo die Ameise in diesem Moment wohl verweilt? Nun, mir wurde von einem Austauschprogramm berichtet; sie lebt derzeit in einem anderen Waldgebiet, bei einer Weinbergschneckenfamilie. Ja, und auch dort zog die Botschaft einer schwarzen Macht durch das Land. Sie hob eine sehr überraschte Weinbergschnecke auf einer Straße zwei Meter in die Höhe, um sie behutsam fern der Gefahr in das Gras zu setzen. Nichtsdestotrotz wurde die Flugstunde nicht goutiert, da sie gerade aus jenem Areal aufbrach. Unerhört.