Der Juli lebt nicht mehr. Wer am späten Abend in der allumfassenden Natur lustwandelt, wird erkennen, daß die würzige Luft von einem herbstlichen Hauch geprägt ist; wir nähern uns behutsam dem Jahresende. Soeben begann das neue unerwartet irreale Jahr, hoffnungsfroh und doch vergeht es demnächst für alle Zeiten. Äquivalent unser eigenes, temporäres Dasein. Wir werden geboren – ohne gefragt zu werden, ohne vor die Wahl gestellt zu werden – und erhalten unser persönliches Buch des Lebens in die Hand gelegt. Nur der Name steht in eisernen Lettern geschrieben, für viele andere Dinge wie Begebenheiten sind wir selbst verantwortlich. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr vergeht erbarmungslos. Wir schreiten beständig von der noch nicht gelebten Zukunft in die unendliche Vergangenheit.
Immer mehr Seiten schlagen wir in stiller Hoffnung auf, blättern sie achtlos oder respektvoll um. Manch einer bewahrt dieses imaginäre Buch mit tiefer Wertschätzung auf, pflegt es intensiv und lebt dementsprechend; andere wiederum, treten es mit Füßen, reißen einzigartige Seiten heraus und beschmutzen es gedankenlos oder mit Absicht. Doch irrelevant wie man sich schlußendlich verhält, es existiert kein Garant dafür, wie viel Seiten am Ende in unserem Buch vorkommen werden. Ob man mit Wertschätzung oder Verachtung lebt, für nichts gibt es Garantien und in beiden, divergierenden Formen entwickeln sich dünne Heftchen und dicke Folianten. Das Leben ist unberechenbar. Gnadenlos.
Man wird also geboren; lebt, l i e b t, lacht und weint – indessen vergeht ungerührt die Zeit, unser einziges Leben fließt rasant dahin und wir nehmen das selten intensiv und konzentriert wahr. Man ist ja jung, unendlich viel Jahre haben wir noch zur Verfügung. Entsprechend beschäftigen wir uns oft mit bedeutungslosen Dingen, vergeuden nicht selten die kostbare Zeit – oder auch nicht. Wir streiten miteinander, versöhnen uns und beschreiten Wege, die wir vielleicht gar nicht gehen wollen, was uns freilich nicht hindert, es dennoch zu tun. So füllt sich das Lebensbuch immer mehr, das Aussehen verändert sich mit den Jahren, die Seiten vergilben, werden schwächer, hängen nur noch lose zusammen und die einzelnen Passagen werden älter und älter – oder auch nicht. Und irgendwann wird sich das gewichtige Buch schließen, oft ohne Vorwarnung, so daß es sich nie mehr öffnen läßt und wieder werden wir hierbei nicht gefragt. Auch hier haben wir keine Wahl, kein Recht auf Mitbestimmung. Das Ende wie der Anfang. Der Kreis schließt sich.
Dieses symbolhafte Buch bleibt geschlossen. Für immer und immer. Jener Mensch, der dahinter stand, der es verkörperte, atmet nicht mehr. Er hat sich auf seine letzte Reise begeben, ist aufgebrochen in das unendliche Reich der Vergänglichkeit, dieser letzte Weg ohne Wiederkehr. Und jene, die traurig hinterher blicken, zurückbleiben, werden es nie verstehen. Wie auch? Wie kann das nur möglich sein, diese unerträgliche, schmerzvolle Endgültigkeit? Herzzerreißende Ohnmacht. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Machtlosigkeit. Egal, was wir machen oder tun, es bleibt unabänderlich. Erinnerungen treten auf, aus längst vergangenen Tagen – allmächtige Erinnerungen von wunderbaren Momenten, die einst selbstverständlich waren, ja, die man damals gar nicht beachtet hat, möglicherweise weil sie viel zu banal erschienen, die jetzt zu wertvollen Augenblicken werden, die die Welt bedeuten würden; wenn sie doch nur real wären! Nur einmal noch! Allein, sie sind vergangen, für immer, kehren nicht zurück. Inhaltslose Leere. Im Geist leben jene Personen weiter, solange wir selbst noch leben, so lange werden wir uns mit einem Lächeln oder in Tränen an sie erinnern. Aber irgendwann schließt sich auch unser eigenes Lebensbuch und erst dann wird es so sein, als ob jene Menschen, die wir so geliebt haben, niemals lebten. Dann sind sie wahrhaftig gegangen.
Diesen Artikel widme ich zwei lieben Menschen. Gelesen wird er jedoch nur von einer Person (und kann Dich doch nicht im Ansatz trösten). Das ist das Leben. Es ist nicht fair, das war es nie. Aber hatten wir je die Wahl?