Ein gemütlicher Abend vor wenigen Tagen. Anregende Gespräche innerhalb einer illustren Runde dominierten den Moment. Irgendwann tendierten die Worte in Richtung des Laufsportes, speziell auf die Thematik „Regenlauf“. Die Diskussionspartner setzten sich aus mehreren Nichtläufern und einer Ex-Läuferin zusammen. Zusätzlich ein aktiver Läufer mit einer Lauferfahrung, die meine 12 ½ Jahre als sehr gering erscheinen lassen – und nicht zu vergessen, meine Wenigkeit als ein Vertreter der Täglichläuferzunft. Ich muß gestehen, ich bin es leid, Menschen etwas näher bringen zu wollen oder zu erklären, was sie aus einer Form von Intoleranz heraus nur ablehnen. Ein sinnloses Unterfangen. Dies ist mir zu müßig.
Dennoch, nachdem ich lange schwieg, ließ ich mich auf die Unterredung ein. Die Teilnehmer waren in ihrem Denken gespalten. Auf der einen Seite absolute Ablehnung: „Wie kann man nur im Regen laufen? Man wird ja sooo naß! Die Schuhe werden naß! Alles klebt. Eklig! Das ist ungesund! Regen und dann noch Wind? Nein, das kann nicht gut sein!“ – Mehrere Augenpaare sahen mich an: „Wie kannst Du das nur schön finden?“. Dazwischen der aktive Läufer: „Im Sommer, bei 20 oder 25 C° im Regen zu laufen, ist angenehm, ja, aber wenn es kälter wird? Nein. Dann nicht mehr!“. Und zu guter Letzt meine Person auf verlorenem Posten – als leidenschaftlicher Regenläufer.
Ähnlich wie in meiner favorisierten Rubrik „Faszination Regenlauf“ beschrieb ich meine Empfindungen während dieser wunderbaren Witterungsverhältnisse – mein Hohelied auf den Regen. Wie es ist, wenn man im Laufschritt beherzt die Welt erobert und am Horizont die durch finstere Wolken zum Abzug gezwungene Sonne langsam beobachten kann. Allmählich verflüchtigt sie sich, ihre goldenen Strahlen verblassen, gewährt der dunklen Präsenz mehr und mehr Raum, um letztendlich zaghaft zu einem gefühlten Hauch im Nichts zu werden. Während die gelobte Parade der grauschwarz schattierten Geisterwolken immer bravouröser aufzieht und unerbittlich Stellung bezieht. Bis dann die ersten Wassertropfen leise zu Boden segeln, nach und nach, einsame Tröpfchen, die einzelne Sandkörnchen explosionsartig hochfliegen lassen, um anschließend elegant zu verpuffen. Doch diese Einsamkeit ist eine Illusion; das nieder gleitende Regenwasser vereinigt sich zu einem lieblichen Nieselregen und etabliert ein immer stärker werdendes Prasseln. Das T-Shirt durchweicht in wenigen Sekunden, die Haare weinen durch das nasse Stakkato, feinste Rinnsäle bahnen sich ihren natürlichen Weg vom Kopf und perlen Tränengleich mein lächelndes Antlitz herab. Der vormals trockene Pfad verfärbt sich dunkelnaß und die ersten Pfützen reflektieren den grauen Himmel. Zu Beginn weiche ich ihnen noch aus, doch sobald die Schuhe vollkommen naß sind, ist dies nicht mehr nötig. Unbeherrschte Wogen des aufgewühlten Sees bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg an das von weißer Gischt gesäumte Ufer; unsichtbare Sturmdämonen reiten wild über das Seewasser.
Die Welt ist eine andere geworden; der Regen hält die Scheuen und Ängstlichen zurück, er sorgt dafür, daß diese berauschende Atmosphäre nur von wenigen Menschen gefühlt werden wird. Die Welt ist zärtlicher geworden, getragen von einer sanften, behaglichen Ruhe. Eine leise Stille, die sich erst in der Nässe offenbart. Der prosperierende Herzschlag des Lebens pulsiert langsamer und zugleich schneller, einer leidenschaftlichen Liebe geschuldet. Regungslos im Geist und voller körperlicher Kraft genieße ich meinen Regenlauf. Gesellen sich noch sanfte bis ungestüme Sturmböen hinzu, kehre ich zu der Quelle meines Seins zurück. Elementares Dasein. Ich laufe nur noch, empfinde, fühle und genieße – und denke nicht mehr. In Frieden und Einklang mit der omnipotenten Natur und mit mir selbst – lebe ich. Auf Gefühle reduziert. Nicht mehr. Nicht weniger.
Nach meiner glühenden Beschreibung der von mir so geliebten Regenläufe blickte ich einmal mehr in verständnislose Gesichter: „Welch ein Unsinn!“ war in ihnen zu lesen; „Du verrückter Kerl!“ – sagten sie lächelnd. Mitfühlend. Furchtsame verstehen Furchtsame. Täglichläufer verstehen Täglichläufer. Leidenschaftliche Regenläufer verstehen leidenschaftliche Regenläufer. Menschen gleicher Art verstehen immer einander. Meinen Vortrag hätte ich mir sparen können, aber das wußte ich vorher. Ich werfe es ihnen jedoch nicht vor. Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich über meine Worte auch nur gelacht und mich gefragt, ob das noch normal ist. Doch was ist schon normal? Was ist verrückt? Wer definiert das? Für sich? Für andere? Mit welchem Recht? Die Menschen sehen das, was sie sehen wollen. Wer den Blick hebt, sieht gleichwohl eine andere Welt.
So verging der Abend. Interessante Gespräche zwischen grundverschiedenen Charakteren, die zwar verbunden waren, sich partiell aber nicht verstanden. Sie verstanden mich nicht – und ich verstand sie nicht. Während des nächsten Regengusses werden sie an mich denken und mit dem Kopf schütteln. Auch ich werde mit einem Lächeln an diesen denkwürdigen Disput zurückdenken und ebenfalls mit dem Kopf schütteln, indes ich kräftig in eine Pfütze springen werde und ein nasser Blätterarm gegen meine Schulter peitscht. Zwei konträre Denkweisen, die beide ihre Berechtigung besitzen. Die Kunst besteht darin, sie den anderen nicht aufzuzwingen. Eine simple wie komplexe Erkenntnis. Abschließend betrachtet, danke ich dem beständig unbeständigen Zufall des Lebens für jenen Augenblick, der mich einst zu dem machte, was ich heute bin. Ein inbrünstiger Verehrer der regnerischen Natur, der nassen Welt, des vor Regen triefenden Lebens. Ich liebe es. Aus tiefstem Herzen. Und ja, allein mein Vortrag über die Regenläufe ließ mich lächeln; vor meinem geistigen Auge zogen die erlebten Erinnerungen vorbei, die mich mit tiefer innerer Zufriedenheit auf die entsetzten Freunde blicken ließen. Ein intensives Gefühl.