on 22. Oktober 2010 by Täglichläufer
Gefangen im unendlichen Kampf der zeitlichen Naturgewalten. Das herbstliche Nebelschwert fuhr gefühllos hernieder, geradewegs in den golden leuchtenden Kettenpanzer des Sommers und durchbohrte ihn mit lächelnder Vehemenz; kalt- und unbarmherzig. Eine unbedeutende Austrittswunde entstand, zurückhaltend in der Ausdehnung – doch es bildeten sich feine Risse, äquivalent verletztem Eis – der Ansatzpunkt zu einer frostigen Expansion, welche immer intensiver voran schreitet. Erst langsam. Latent, kaum sichtbar; später umso rigoroser. Die grüne Herrlichkeit versiegt von Tag zu Tag ein wenig mehr, ein unmerklich schleichender Prozeß. Nur abgelöst von gelben Gewändern und roten Farben, die schlußendlich der düsteren Entblößtheit weichen müssen, wenngleich einzelne Bäume zum heldenhaften Widerstand aufrufen und dem Winter beharrlich trotzen werden. Unbeherrscht.
Abgeworfene Blätter, die sanft zu Boden sinken und die Wege scheinbar samtartig auskleiden. Ein ruhiger Wind galoppiert ungestüm in sie hinein, verwirbelt die Blätter, trägt sie hoch hinaus und weit mit sich, bevor sie an anderer Stelle erneut auf die Erde gleiten. Wie der zarte Hauch des Lebens. Das gleiche alte Lied. Dunkelheit breitet sich allenthalben aus, grau schattierte Wolken ziehen am Horizont in die Ewigkeit des Momentes. Verhaltene Schritte im finsteren Forst. Die greifbare Einsamkeit in der weiten Abgeschiedenheit begrüßt mich, ja, sie umarmt mich und drückt mir fast die Kehle zu, schnürt mir die Luft ab – dann gibt sie mich plötzlich für einen Bruchteil frei und reißt mich mit, entführt mich; in eine Welt voller Leben, Energie, gefühlten Frieden und sensiblen Empfindungen. Wohin wird die Reise gehen? Wer kann dies schon beantworten?
Das menschliche Leben wird einmal mehr bedeutungslos, es ist ohne jedweden Sinn, irrelevant welche Rechtfertigung wir konstruieren, um unsere erbärmliche Existenz zu legitimieren, die doch nicht über die niedersten Instinkte hinauskommt. Sogleich verwerfe ich diese Gedanken, die menschliche Widerwärtigkeit mit ihrem primitiven Gebaren soll mir nicht den Zauber des Augenblickes verheeren. Allein, es gelingt mir nicht. Die herbstliche Magie hat mich längst erfaßt und ich sauge ihre Harmonie mit Wonne auf. Nur die reine, natürliche Einfachheit ist jetzt von Bedeutung – die kleinen und unscheinbaren Dinge entfalten ihre würdige Macht und übernehmen die Kontrolle über mich – ich trivialer Täglichläufer – nur Staub im Wind in den Äonen der Zeiten. Das Schilf singt im Einklang mit seiner Umgebung die Melodie des Wassers, zärtlich gestimmt von den Wellen des Sturmes. Eine Art substanzielles Hohelied der Liebe. Wieder und wieder, scheinbar ein Anfang ohne Ende. Ja, die tragische Poesie des Lebens überzeugt den aufmerksamen Betrachter mit ungekannter Heftigkeit, mit einer Leidenschaft, die ihresgleichen sucht. Begeistert.

Ich unterbreche meine natürliche Bewegung. Hocke mich am Strand hin, schließe die Augen und verharre. Meine Gedanken treiben dahin, wie das Wasser eines Flusses, der in das Meer fließt. Versinken. Dem Sinn der Augen beraubt, die Schärfe der Ohren intensiviert – das Dasein strebt nach Ausgewogenheit – konzentriere ich mich auf die Geräusche der Umgebung. Ein Rauschen überwältigt mich, das unbändige Tosen des Sees dominiert und übertönt mit Macht alle anderen Laute. Mir scheint, als ob ich die in der Ferne vorbei ziehenden Wolken hören könnte, was werden sie während ihres Fluges alles sehen? Im Hintergrund vernehme ich mehrere Eichelhäher und andere Vögel, die längst ihre grandiosen Gesangeskünste im Hinblick auf die Partnerwahl eingestellt haben. Eine frische Brise schlägt mir in mein Antlitz, vertreibt für eine Sekunde die melancholische Einsamkeit und verbindet sich mit den fühlbaren Augenblicken der Sinnlichkeit, ja, eine frühlingshafte Empfindung wird in meine Perzeption suggeriert. Ich kann den warmen Jahresauftakt nicht sehen, aber ich fühle ihn; der Tatsache ungeachtet, das es sich hierbei um eine Illusion handelt. Streichelnder Wind.
Obwohl meine Augen geschlossen sind, ist es mir, als ob ich mehr denn je erspähe. Wahres Sehen. Nicht auf das Sinnesorgan Auge bezogen, nein; in einer geistigen Form, eine andere Dimension. Ich verlasse jene Erkenntnisebene, sehe mich selbst auf dem Damm hocken, schwarz; den Kopf auf beide Hände gestützt, fliege über mein Laufareal hinweg und überblicke es in seiner prächtigen Herrlichkeit und natürlichen Vollendung. Höher und höher. Wie klein und belanglos wir doch sind! Demut keimt auf. Es fällt mir schwer, mich von diesen lähmenden Gefühlen zu lösen, die Zeit konserviert mich an diesem Ort, in der fliehenden Gegenwart der tiefen Empfindungen. Berührt von der Unendlichkeit, getroffen. Sehen, aber nicht mit den Augen. Hören, jedoch nicht mit den Ohren. Nur fühlen und empfinden, mit dem Herzen. Tief im Innern. Verborgen im Selbst. Ich öffne die Augen.
Mein Geist kehrt zurück; in meinen unzulänglichen Körper. Es kostet Kraft, die bewegenden Impressionen endgültig in das Nebelreich zu verbannen, aufzustehen und wieder in den Laufschritt zu verfallen. Leiser Regen setzt ein, begleitet mich. Rinnt mein Angesicht herab. Gleich Tränen, die behutsam die Erde berühren und sich für immer verflüchtigen. Ich gebe mich erneut der Bewegung hin, überwinde den Eigensinn. So setzt er sich fort, mein täglicher Lauf. Oder sogar der Lauf des Lebens? In solchen Momenten realisiere ich, was wirklich wichtig ist. Die wirren Geister der menschlichen Abhängigkeit mit ihren monetären Dämonen enttarnen sich; ich könnte jetzt lachen. Aber ein trauriges Lachen wäre das. Über uns törichte Menschen, die lächerlich sind und grotesk agieren. Über jene, die nicht wissen, was es bedeutet zu leben, die vom wahren Wert der einzigartigen Existenz keine Ahnung haben; nur dem Geld hinterher hetzen, die Natur vernichten und doch sich selbst suchen ohne es zu wissen, nach einem Sinn – den sie nie finden werden. Sich nach Liebe, Glück, Frieden, Geborgenheit und Zufriedenheit sehnen, ein für alle Zeiten verborgener Weg; denn er ist nicht käuflich. Und das Eingangstor liegt in der Welt hinter der Welt; im Kleinen und Unscheinbaren, in der elementaren Einfachheit.

Mein Lauf endet. Aber was für ein Lauf! Gewaltige, besondere Momente beherrschten ihn, die für mich einen vollkommenen Sinn ergeben. Nur ein Wort kann das beschreiben, freilich nur im Ansatz: Erfüllung. Welch melancholische Stimmung! Sie zeichnet ein symbolisches Bild par excellence, was Täglichlaufen für mich darstellt. Empfinden und Fühlen. Besinnung auf das wahre Leben. Ein Anfang ohne Ende? Nein. Alles, was beginnt, endet auch. Ein jeder Anfang findet sein Ende – früher oder später. Ein Glück. Welch Glück!