on 29. Juni 2009 by Täglichläufer
Folgender schwer bekömmlicher Beitrag fällt wieder einmal aus dem Rahmen – des so leichten Laufens – und spannt einen bewußt subjektiven Bogen zwischen Tod, Leid und Wahnsinn. Auf Grund der exorbitanten Komplexität jener Thematik beschränke ich mich darauf, nur grob an der Oberfläche zu kratzen. Weiterhin bin ich tief davon überzeugt, daß sich nie etwas ändern wird, was mich jedoch nicht darin hindert, meine Gedanken in Worte zu gießen.
Wer meine Texte intensiv verfolgt, könnte vorschnell auf die Idee kommen, daß Täglichlaufen mein Hobby wäre. Dem ist nicht so. Für mich handelt es sich hierbei um eine Form der natürlichen Selbstdisziplin in der Natur praktiziert, mit der eine automatische Gesunderhaltung des Körpers und des Geistes einhergeht. Eines meiner relevantesten Interessengebiete liegt in der Genealogie. Das zentrale Thema wird in diesem Spektrum immer der zweite Weltkrieg bleiben – das Kapitel ist zu dunkel und bedeutend, um in den Hintergrund zu geraten und zu verblassen. Sei es, weil meine Großväter daran teilnehmen mußten und einer von ihnen mit seinem viel zu jungen Leben geradezu verheizt wurde. Zum anderen verlor ein erheblicher Teil meiner Familie ihre Heimat, ihre Ländereien, ihre Wälder – wo sie Jahrhunderte in Frieden lebten. Nicht zuletzt wurde meine Familie im ganzen Land verteilt. Zerrissene Bande. Ein Schicksal, welches zahllose – zu viele – Familien über sich ergehen lassen mußten. Ein Drama fern jeder Vorstellungskraft – besonders für die nachgewachsenen Generationen. Der Zufall spielte mir vor ein paar Tagen mehrere Bücher zu, die sich diesem traurigen Teil der deutschen Historie widmen.
Jeder Mensch, der nur halbwegs an der jüngeren Geschichte interessiert ist, kennt die unablässigen Dokumentationen im Fernsehen, die sich mit dem letzten Weltkrieg beschäftigen. Ich sah derer viele. Ungezähltes Leid. Massenhaft. Wahrhaft gewordene Trauer, die nicht in Worte zu fassen ist. Ich glaubte, viel über diesen Wahnsinn zu wissen, doch ich irrte. Denn in den bereits angesprochenen Büchern geht es nicht um einen groben Rahmen, wie man es dem Zuschauer im Fernsehen zumuten kann, nein, es werden Einzelschicksale erzählt, explizite Details genannt. Beim Lesen bekam ich eine Gänsehaut und die Tränen standen mir in den Augen. Die Detailliertheit sucht ihresgleichen – nach 64 Jahren treffen mich die längst vergangenen Ereignisse tief ins Herz. Was wurde nur unschuldigen Frauen, Kindern, Säuglingen und Greisen angetan? Wie können Menschen eine derart monströse Brutalität aufbringen und damit leben? Ich werde das Leid hier nicht wiederholen – es hat schon genug Kraft gekostet überhaupt zu lesen, wozu Menschen im Einzelnen fähig sind. Ein Satz ist bezeichnend für das Ausmaß; sinngemäß hieß es: „Berichte, die ich in den letzten Tagen gehört habe, sind zu unglaublich, als daß eine ferne, friedliche Zukunft sie je glauben wird“.
Ein Gefühl von Wut entwickelt sich – das Bedürfnis in längst vergessene Ereignisse hineinzuspringen und um sich zu schlagen, zu helfen und retten; ursächlich bedingt durch ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und dennoch in dem Wissen, daß Gerechtigkeit noch nie existiert hat. Nach mehr als sechs Jahrzehnten kamen mir die Tränen; wie muß es erst den Beteiligten, den Betroffenen damals ergangen sein? Mir fehlen die Worte. Und immer wieder frage ich mich, warum? Wie können wir zu so etwas fähig sein? Wie nur?
Schuldzuweisungen an explizite Nationen oder Völker sind in meinen Augen obsolet. Ich erkenne in Deutschen, Engländern oder Russen keine Unterschiede. Auch spielt es keine Rolle, welcher Ideologie oder Religion – Glauben oder nicht – man angehört. Wenngleich die Kirchen immer ein gewandter Kriegstreiber waren und das Leid stets für sich nutzten. Fakt ist, wir sind EINE Spezies – Menschen. Welch primitives Gebaren eine Gattung in lächerliche nicht signifikante Kategorien zu bewerten! In höher- oder minderwertig. Grotesk und widerwärtig! Doch wahrscheinlich ist das der Tribut einer Rasse, die für Tod und Zerstörung lebt und darin ihr Heil sieht. Von jeher beschäftigen sich pseudointelligente Vertreter der Menschen damit, absurde Waffentechnologien zu konstruieren. Von Streitwagen, Panzern über Schlachtschiffe bis zu atomaren, chemischen und biologischen Vernichtungstechnologien und Kampfmitteln. Omnipotenz im Namen des Todes. Das Töten zu industrialisieren, ist nur die logische Folge. Wie kann eine Spezies so eminent kriegsgeil sein?
Basierend auf einer Liste über geführte Kriege in einer bekannten Enzyklopädie im Internet gab es über 400 Kriege seit der Spätrenaissance bis heute. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges starben weltweit mindestens 25 Millionen Menschen, im 20. Jahrhundert insgesamt geschätzte 150 bis 200 Millionen Menschen durch Kriege. Wahrscheinlich ist das noch weit untertrieben. All dies ist nur Statistik. Schnöde Zahlen. Wir sollten dennoch nicht vergessen, daß jeder dieser Toten ein Einzelschicksal darstellt. Jeder einzelne von ihnen hatte eine Familie – Mutter und Vater – Menschen, die diese Personen von Herzen liebten und vermissen. Sie hatten Träume für die Zukunft. Sie wollten leben. Einfach nur leben. Ist das so absurd?
Wir betrachten uns selbst als hochfliegende Zivilisation voller Werte, Moral und Integrität, die über allem steht. Ja, wir predigen hehre Werte. Illusionen. Zivilisation ist nur eine Maske. Besonders gut erkennbar in Notsituationen, wenn Katastrophen eintreten und die meisten bei der Rettung nur an sich selbst denken. Dann fällt die zivilisatorische Maske. In meiner eigenen Familie existieren Beispiele, hier eines davon: eine Verwandte sah mit an, wie im eiskalten Wasser treibende Menschen von studierten – ehrenhaften und der Moral verpflichteten – Offizieren vom rettenden Boot mit Stangen weggestoßen wurden – in den Tod. So geschehen am 30.01.1945 während der Tragödie der „Wilhelm Gustloff“. Bildung schützt nicht vor Barbarei – ich neige sogar dazu das Gegenteil anzunehmen.
Wie konnte es dazu kommen? Warum tun wir uns das an? Immer wieder? Über Jahrtausende lernresistent. Das gleiche alte Lied. Ich verstehe es nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger kann ich das nachvollziehen. Ich definiere unser menschliches Aggressionspotenzial als ebenso omnipotent wie krank. Wahrscheinlich bin ich ein Unmensch, da mir der geistige Zugang fehlt. Ein Ergebnis des menschlichen Agierens und Handelns in der Konsequenz auf Deutschland bezogen, sah man eklatant in der Posse um die DDR. Mehrere Jahrzehnte wurde ein Volk geteilt. Welch Unsinn! Immerhin leben wir derzeit in einem fragilen Frieden. Aber wie lange noch? Die Bundesrepublik Deutschland wird in der Form nicht ewig bestehen. Wie werden die nachfolgenden Systeme aussehen? Erneute Diktaturen? Alles Fragen, die die Zeit beantworten wird. Doch eine Antwort gibt es bereits. Die Frage lautet nicht, ob es einen dritten WELTkrieg geben wird – nein – sondern: WANN?
Natürlich haben wir das Grundgesetz, welches grandios ist und wir vielen anderen Ländern voraushaben. Doch eigentlich ist es traurig, daß wir derlei benötigen. Warum können wir nicht in Frieden leben und jeden Menschen achten und respektieren? Jene Generation, die den Schrecken des Krieges selbst erlebt hat, in all seinen grauenhaften Facetten verschwindet im Rad der Zeit. Das macht mir Angst. Die mahnenden und wissenden Menschen sterben aus. Eine bedenkliche Entwicklung.
Warum lösen wir die Armeen nicht auf? Setzen auf Abrüstung und vernichten zur Abwechslung die Waffen? Vakuumbomben und Marschflugkörper in den Müll. Flugzeugträger und atomar betriebene U-Boote ausschlachten. Automatische Waffen einschmelzen und das nukleare Potenzial zerstören. Nieder mit den Waffen. Wozu brauchen wir überhaupt Waffen? Wenden wir uns den wirklichen Problemen zu. Und lösen stattdessen die Hungerproblematik in der Welt! Dies wäre ein Kinderspiel. Wenn wir wollten. Ja, wenn wir denn wollten. Wer will das schon?
Mögen die noch ungeborenen Generationen ein Hauch von Intelligenz entwickeln. Dubito, ergo sum.