on 9. April 2011 by Täglichläufer
Ein malerisch verwittertes Holzhaus einsam und verlassen, mitten im tiefen Forst. Eine gediegene Atmosphäre, Stille. Im Kamin prasselt ein wohlig warmes Feuer, die Flammen tanzen flackernd hin und her, bilden absonderliche Schatten, die nach ihren Gesetzen mysteriöse Gestalten an die Wand werfen. Draußen stürmt es ohne Unterlaß und der Regen schmiegt sich traurig an die Fenster, weint melancholisch hernieder. Auf der rückwärtigen Seite des Hauses klappert ein loser Fensterladen immer wieder rhythmisch im Wind. Ich begebe mich in den alten Schaukelstuhl, der mein Gewicht knarzend goutiert und setze meine große Brille auf und öffne das mächtige wie uralte Märchenbuch und beginne leise schaukelnd vorzutragen, während die Witterungsmächte, der Laden und das rotgoldene Feuer ihren eigenen Tanz leben.
Es war einmal vor gar nicht langer Zeit. Weit, sehr weit von den Bergen im Süden entfernt lebte in nördlicher Richtung ein kleines Männlein, welches es von Herzen liebte, täglich zu laufen. Sogar eine stolze Dekade in diesem natürlichen Stil sollte es vollenden. Die anderen Bewohner in jenem preußischen Tal, die ihn täglich laufen sahen, wunderten sich schon lange nicht mehr, wenngleich sie sein kauzig stures Agieren nie verstanden. Es soll sogar possierliche Zwerge gegeben haben, die ihm Verrücktheit unterstellten oder seine Konzeption gar als Zwang interpretierten; selbstverständlich unwissende Wichtel, die entweder selbst nicht liefen oder keine wahre Liebe zum Laufen entwickeln konnten – und freilich nie mehrere Jahre täglich liefen, um das wirklich beurteilen zu dürfen, was sie nicht daran hinderte es dennoch zu tun. Eines fernen Tages befand sich das täglichlaufende Wesen wieder einmal im dunklen Wald, der Regen prasselte unaufhörlich zu Boden und bildete expandierende Wasserlachen als urplötzlich und sehr geräuschvoll, doch halt – Ende! Dies ist eine andere Geschichte, ich habe mich in der Seite geirrt. Sodann blättere ich weiter…
Wohlan, es war einmal in einer bequemen und bewegungsfeindlichen Gesellschaft, in einer Pseudogemeinschaft, die nur eine einzige Wertvorstellung besaß, die Jagd nach Gold, Edelsteinen und Reichtum. Ein absonderliches Königreich, bedeutungslos regiert von einer pummeligen Monarchin mit knuffiger Haartracht und ewig liebreizend lächelnd mit niedlich nach unten zeigenden Mundwinkeln und urkomischen Lakaien, die stets lustige Reden schwangen, aber nie sinnvoll handelten. Am besten ließ sich das Volk manipulieren, wenn es – wie schon zu allen Zeiten – unwissend gehalten wurde; Mythen und Märchen waren allenthalben an der Tagesordnung. Viele Sagen beherrschten damals das Denken der einfachen Menschen. In meinem Vortrag geht es heute um die alte Mär von der Haltbarkeit von Laufschuhen – schließlich ist das hier mehr oder minder ein Laufblog, gell? Doch weiter im Text.
Mächtige Hexenmeister stellten selbige alchemistisch her und warfen sie unter die wenigen Sportbegeisterten im sonst primär träge eingestellten Volk und ihre Legionen an Vasallen propagierten im ganzen Märchenreich – an allen möglichen und unmöglichen Orten ihre Thesen. Damit sie noch mehr Laufschuhe verkaufen konnten, ersannen sie nämlich böse Banne und verbreiteten seltsame Gerüchte. Die Schuhe müssen nach 500 Kilometern, aller spätestens aber nach 1000 Kilometer ersetzt werden. So stand es geschrieben. Und manche Wesen sprachen gar von 250 Kilometern – Kompetenz kraft eines unsportlichen Lebens im Sinn der Gewinnmaximierung – so drang es in mein Gehör. Einfluß nehmende Faktoren wie Gewicht, spezielle individuelle Nutzung, Belastung, wirklicher Zustand etc. blieben an diesem Pauschalurteil selbstredend unbeachtet. Auch sollte man seine Schuhe im steten Wechsel tragen, nie die gleichen über einen längeren Zeitraum. Und nur jene Exemplare, die mit viel Edelsteinen aufgewogen wurden, sind von guter Qualität, munkelten betörende Stimmen.
Ja, ich liebe noch heute Märchen. Auch wenn sie Unsinn sind, wie definierte Kilometerangaben im Kontext der Nutzung von Laufschuhen. Real existieren keine expliziten Kilometergrenzen, um seine Schuhe zu ersetzen. Zahllose Aspekte bedingen die Haltbarkeit von Laufschuhen. Man sollte immer selbst entscheiden, ob sie noch adäquat sind oder nicht und dies nicht von starren Werten abhängig machen, die fern der Realität propagiert werden. Aktuell mußte ich mich von einem Paar trennen, welches weit über 3500 Kilometer (geschätzt) hinter sich hat. Der Wert ist noch untertrieben. Irgendwann klassifizierte ich sie als Teil meiner edelexklusiven Uboot-Kollektion. Bei meinem letzten Flutlauf trug ich selbiges Paar noch und bis auf die gewohnten Löcher war es durchaus akzeptabel. Dennoch kamen sie mir vor kurzem suspekt vor und ein mehr oder weniger schwacher Griff löste die letzten miteinander verbundenen Löcher und der Schuh war somit unbrauchbar. Wobei der Gesamtzustand insgesamt gar nicht in dem Maße desaströs erschien. So mußte ich mich leider von einem meiner Lieblingspaare endgültig verabschieden, die mich bei vielen wunderbaren Läufen begleitet haben; allerdings auch ihren Teil hinsichtlich meines letzten Sturzes beitrugen.


Unmittelbar danach erwarb ich zwei neue Paare und oh grundgütiges Wunder, ich bekam sofort welche in US-Größe 12. Das seltsame Land hinter den sieben Bergen bestimmt auch in meinem kleinen Königreich die Größenangaben. Wenn Märchen wahr werden. Die sehr freundliche Fee empfahl mir erneut ein unverzichtbares Pflegemittel, um die Neuerwerbungen langfristig zu pflegen. Einmal mehr antworte ich: „Nein danke. Ich pflege meine Laufschuhe nicht, ich ruiniere sie“ – aber nicht unbedingt gleich nach 250 Kilometern. Was der besagte Hexenmeister mit seiner Schuhfabrik als gar nicht amüsant erachtet. So läuft das dunkel gekleidete Wesen weiterhin täglich in seinen Wäldern, springt über Wanderwurzeln und spricht mit den Tieren wie in der Fabel und schert sich nicht ein Deut um Mythen und Legenden, die von unwissenden und goldgierigen Mächten lanciert werden. Und wenn er nicht gestorben ist, ja, dann läuft er sogar noch heute täglich – aber nur wer sich leise aufmerksam im Wald bewegt, kann das scheue Männlein von kleiner Gestalt vielleicht erspähen.
