Der unausweichliche Kampf begann hoffnungsvoll. Auch war der Kombattant stark, ja, geradezu unheimlich gewaltig – mit einer latenten Arroganz. Tag für Tag wurde das geheimnisvolle Duell geführt; die Schwerthiebe des stets entspannten Gegners wurden jedoch mächtiger, im gleichen Maße schwand die einstige Überheblichkeit. Nun ist es besiegt. Fast. Das Jahr 2010. Es liegt röchelnd danieder und wird nur noch wenige Züge des Lebens atmen. Besiegt von einer omnipotenten Meisterin, die uns früher oder später alle in die endgültigen Schranken weisen wird. Wir bezeichnen sie als Zeit. Das Jahr ist Geschichte; ich werde nur noch wenige Beiträge schreiben. Mein üblicher Monatsrückblick, der traditionelle Weihnachtsartikel und der große Jahresrückblick werden folgen. Vielleicht. – – –
Als sich der September seinem natürlichen Ende entgegen neigte, nahm ich die ersten Änderungen wahr. Zahlreiche Läufer paßten ihre Bekleidung dem sich noch nicht nähernden Winter an und präferierten lange Hosen, Mützen und partiell sogar Handschuhe. Jener Zeitpunkt scheint von Jahr zu Jahr früher einzusetzen. Und wie in jedem Jahr fragte ich mich, was werden diese laufenden Menschen, die Welten von der adäquaten elementaren Verhältnismäßigkeit entfernt sind – im Winter tragen? Im wirklichen Winter? Bei wahrer Kälte? Hierbei handelt es sich um rhetorische Fragen – das ist mir bewußt. Die „Laufsaison“ ist doch beendet, höre ich jetzt öfter. Entsprechend traf und treffe ich nur noch wenige Läufer während meiner täglichen Runden, Tendenz weiter sinkend; womit sich meine wunderliche Frage freilich beantwortet hat. Es wird gar nicht mehr gelaufen! Schließlich herrscht der Winter und es ist kalt!
Aber was soll das sein, „Laufsaison“? Nach meiner Betrachtung ist derlei blanker Unsinn. Es täte mir von Herzen weh, wenn ich mein Täglichlaufen nach saisonalen Einflüssen definieren und leben würde, was diese Konzeption natürlich ad absurdum führen würde. Selbstverständlich kann man das ganze Jahr über laufen, das liegt evident auf der Hand. Wenn man will. Und gerade jetzt bei den witterungsbedingten Herausforderungen obsiegt die leidenschaftliche Freude. Nachfolgendes Photo zeigt mich nach einem 14 Kilometer-Lauf in der weißen Märchenwelt, nur begleitet von einem stürmischen Schneefall, der seinesgleichen suchte. Ein unglaublicher Traumlauf, den ich nicht im Ansatz beschreiben kann und will. Für diese Emotionen, der wunderbaren Natur geschuldet, existieren keine Wörter. Was hätte ich mit der obigen Pseudoargumentation für einzigartige Momente verpaßt! Mit der Ausrede vom kalten Winter! Ausgerechnet jetzt, in der eisig lieblichen Jahreszeit reizt die Natur mit grandiosen Bedingungen allenthalben.
Die Glatteisthematik lasse ich in diesem Kontext außen vor, diese Widrigkeit stellt eine Besonderheit dar, die man aber auch meistern kann – wenn man denn will. Demungeachtet ist es wahrscheinlich weiser, sich der glatten Herausforderung nicht hinzugeben. Ich hingegen wähle diese Option nicht, das versteht sich von selbst, was mich aber nicht weiter stört. Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben, so Nietzsche. Auch bei diesen Verhältnissen genieße ich mein Täglichlaufen und ja, soweit als möglich (bis ca. -04/-05 °C) bevorzuge ich meine übliche Standardkleidung. So erfahre ich momentan eine erhöhte Aufmerksamkeit, die die tägliche Präsenz in den Hintergrund verbannt – ganz banal auf Grund meiner Bekleidung. Die verständnislosen Kommentare und Reaktionen aus den vergangenen Tagen erspare ich mir an dieser Stelle und schließe mit einem Absatz aus einem älteren Artikel, der sich nahtlos hier einfügt.
Das Wissen um angemessene Kleidung scheint abhanden gekommen zu sein. Freilich ist mein Pfad der Abhärtung in Kombination mit Täglichlaufen ein Sonderweg, den niemand in der Form beschreiten wird, ja, auch gar nicht soll. Doch letztendlich sollte eine gewisse Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Wenn ich meinen Körper im Herbst mit Winterkleidung verhätschele, brauche ich mich anschließend nicht wundern, daß ich im Winter krank werde und die Kälte schwer bis gar nicht ertragen kann. Unser Körper ist weitaus widerstandsfähiger als die meisten Menschen auch nur im Ansatz erahnen, doch sie werden es nie erfahren, da sie ihn nicht fordern und somit auch keine Grenzen verschieben werden. Sie sind Gefangene ihrer selbst. Ihres Denkens. Und so setzt es sich fort. Die Passanten starren mich ob meiner kurzen Bekleidung an – und ich wundere mich weiterhin, wie man im Herbst Winterkleidung tragen kann. Jedoch bin ich vermutlich derjenige, der sich wohler fühlt. – Jeder muß das tun, was ihm gut tut. Und jeder muß sein eigenes Lied im Weltgesang singen – wenn er denn eins hat.