Die Pforte der Einsamkeit
Körperlich verhallt sind sie nun, die Paukenschläge. – – Die dunkle Nacht will nicht vergehen, nur widerwillig bricht der Tag an, doch ohne Licht. Gefangen in der Düsternis. Graufinstere Wolkenformationen dominieren das unendliche Firmament und nasse Sendboten der Regenmächte galoppieren galant am Horizont entlang und erobern die unter ihnen dämmernde Morgenwelt mit ihrem lebendigen Odem der genußvollen Stärke. Nachdem ich die Böschung erstiegen habe, rasen zahllose lärmende Blechvehikel auf der vielbefahrenen Hauptstraße an mir vorbei, die hellen Scheinwerfer blenden und wirken gleich Dämonenaugen aus dem Reich der Phantasie. Ich frage mich, was unangenehmer wäre – so es denn diese Gesellen gäbe. Wenige Meter später nimmt mir ein junger Fahrer die Vorfahrt; ich erhebe meinen Arm und wie von Magie gesteuert, verschiebt sich das Auto nach hinten. Freilich ist hier keine Zauberei im Spiel, der Fahrzeuglenker fährt schlichtweg einen gebührlichen Bogen, macht einen ordentlichen „Schlenker“, was ich in dieser Form bis dato noch nicht erlebt habe. Die Bedeutung des „Stop“-Schildes erschließt sich heutzutage nur noch einer raren Minderheit – als ich einst den Führerschein erwarb, war die Lesefähigkeit eine Grundvoraussetzung – Zeiten ändern sich.
Sodann verabschiede ich mich von der Zivilisation, erreiche eine leere Seitenstraße und nun leuchtet sie vor mir, die herrlich anmutende Pforte der Einsamkeit, der Stille und der greifbaren Melancholie der Abgeschiedenheit. Dunkelschwarz thront der Waldeingang, kein Windhauch ist zu spüren – nur der behutsam hernieder fallende Nieselregen ist allenthalben zu fühlen. Ungeachtet der liebevollen Zärtlichkeit, die jene geliebte Witterung an den Tag legt, bin ich längst durchnäßt – einmal mehr trage ich den oft von mir zitierten Brustharnisch der Nässe, der sich wie ein imaginäres Kettenhemd an mich schmiegt und doch nicht eisern rasselt. Die Pfade des kahlen Waldes sind durchzogen von Pfützen und kleinen Seen en masse. Ich habe keine Veranlassung auszuweichen. Leise wispert der Hain seinen einladenden Willkommensgruß, er umhüllt mich mit seinem ruhigen Umhang der einsamen Stille und ja, ich kann sie gar hören, wenngleich es sich mehr um ein fühlendes Wahrnehmen handelt.
Die Wiesen haben indessen ihre Hoheit an den wogenden See abgetreten, bis zum Wegesrand sind sie überflutet und bald werden auch die Pfade unter dem frischen Winterwasser verschwunden sein. Allein. Wahrlich, ich bin allein. Jählings überkommt mich die Erkenntnis. Ausnahmsweise werde ich nicht einen Grußfreund treffen, nicht ein Reh werde ich beobachten, keine Begegnung mit den rasanten Schwarzkitteln wird stattfinden – nur meine geliebten Wollfreunde werde ich bei ihrem Frühstück erspähen. Und ja, Silberreiher und Eichelhäher, die lauthals ihren Unmut ob meiner Präsenz kundtun, darf ich natürlich nicht vergessen. Dennoch, ich bin allein und ich genieße dieses allumfassende Gefühl. Weiter und weiter führt mich diese meine Reise in die tiefen Wälder der natürlichen Unendlichkeit.
Verlassen liegt mein Damm in der Ferne, einzelne Graugänse beobachten mich neugierig von der Wiese aus, die Blässhühner warnen ihre Artgenossen mit ihrem ureigenen Pfeifton und schwimmen behende vom Ufer fort. Wo endet der graue See? Wo beginnt der düstere Himmel? In Harmonie haben sie sich für immerdar vereinigt, Äquivalent der sogenannten Zeit – es existiert kein Anfang, kein Ende. Das Dasein i s t. Die Quelle allen Seins, man kann es nicht verstehen, wenn man es verstehen will. Für mich gibt es nur einen Pfad, den ich mit meinem Täglichlaufen beschreiten kann – den Weg des elementaren Fühlens. Und so setzt sich mein heutiger Lauf fort, im finsteren Regenreich, welches ich durch die unscheinbare Pforte der Einsamkeit betreten habe und doch, jeder andere, der durch das gleiche Tor geht, wird in eine andere Welt gelangen, niemals in die meine. Das kühle Naß intensiviert sich, zahlreiche Tröpfchen fließen in Rinnsalen auf die Erde und bilden kleine Wässerchen. Die Abgeschiedenheit gibt mich nicht mehr preis, das will ich auch nicht, aber irgendwann erreiche ich doch den unausweichlichen Schlußpunkt. Viel und nichts sollte ich noch erleben, mannigfaltige und nichtige Empfindungen durfte ich noch fühlen, allein – sie gehören nicht hierher. Ich gebe mich der Hoffnung hin, morgen jene Pforte erneut finden zu dürfen.
8. Januar 2013 um 12:44
Ich danke für den bewegenden Lauf-Bericht, der sich tiefsinnig auf das Wesentliche konzentriert. Sie bringen das einzig Wichtige im Leben wieder anschaulich zur Sprache. Ich wünsche ihnen viele ähnliche Läufe und ein wiederholtes Finden der Pforte. Nach dem erschreckenden Vorgänger-Artikel beruhigt mich ihr Lauf-Bericht. Wie es scheint, ist wieder alles in Ordnung. Für die Zukunft wünsche ich ihnen Gesundheit. Passen sie auf sich auf und setzen sie ihr beeindruckendes Täglich-Laufen fort, so lange sie wollen.
Herzlichst
Richard
8. Januar 2013 um 12:45
Vielen Dank, Richard. Für mich erfährt mein Täglichlaufen auf diesem Weg seine wahre Bedeutung. Und bei allen Widrigkeiten – ist es doch zu meinem Weg geworden. Durch die eine oder andere Härte weiß man derlei jedoch erst richtig zu schätzen. Was die Zukunft bringen wird, wird der Fluß der Zeit offenbaren.
8. Januar 2013 um 13:41
Was soll ich sagen? Phantastisch geschrieben. Ich war dabei!
8. Januar 2013 um 14:19
Danke, Joachim. Ich habe Dich bemerkt. 😉
8. Januar 2013 um 15:20
Was bin ich froh, so einen Beitrag zu lesen. Sowas wie der vom Samstag kann gar nix!
Aber wie man sieht, es kann wirklich sehr schnell vorbei sein.
Wie sich ein Kettenhemd anschmiegen kann, erklärst du mir dann mal bei Gelegenheit. So recht vorstellen kann ich mir das gar nicht!
Wie gesagt, diese Beiträge gefallen mir viel besser. Also bleiben wir lieber bei diesen.
8. Januar 2013 um 15:28
Der wahre Autor ist das Leben, dem muß ich mich beugen.
Das ist korrekt. Und irgendwann wird der unausweichliche Tag erscheinen und dann habe ich keine Wahl mehr.
Entfalte Deine Vorstellungskraft. 😉
Es kann nicht nur Höhen geben, auch die Tiefen haben ihre Berechtigung. Dennoch, Du hast Recht – das gefällt mir auch besser.
8. Januar 2013 um 15:31
Ja schon klar wer hier der Autor ist. Aber doch kann man einiges dazu beitragen. Aber lassen wir das.
Ich entfalte da sicher keine Vorstellungskraft. An der fehlt es mir in diesem Zusammenhang.
An den Tiefen merkt man erst, wie wertvoll und fragil die Höhen sind.
8. Januar 2013 um 15:35
Ja, das soll heute nicht das Thema sein. Sonst hätte ich im letzten Artikel die Kommentarfunktion nicht geschlossen.
Das Problem ist meistens, daß man derlei in der alltäglichen Routine nur zu schnell vergißt. Innerhalb einer Sekunde kann alles sein Ende finden, nicht nur das Täglichlaufen. Ein seltsames Spiel – das Spiel des Lebens.
8. Januar 2013 um 15:44
Gut, dann bleiben wir bei schönen feinen Regenberichten. Obwohl ich mich damit auch nicht anfreunden kann – nicht im Winter.
Aber so weiß ich, dass es dir gut geht. Bzw. glaube ich zu wissen.
8. Januar 2013 um 15:50
Ich vermute, auch nicht im Sommer. 😉 Aber die Berichte zwingen ja nicht dazu, es mir gleichzutun. Welch Glück, gell?
Freilich. 🙂
8. Januar 2013 um 15:52
Ein schöner warmer Sommerregen ist schon herrlich. Dagegen habe ich gar nichts.
Na was bin ich froh, dass ich das nicht nachmachen muss, darf, soll 😯
Sehr schön!
8. Januar 2013 um 15:55
Von innen beobachtet… 🙂
Eigentlich ist das eine gute Idee. Wer das hier liest, wird automatisch gezwungen, den Inhalt in die Tat umzusetzen. 😉 Die Mehrheit der Kommentatoren gehört eh der Läuferzunft an.
8. Januar 2013 um 17:18
Idealerweise in DEINEM Outfit!
9. Januar 2013 um 10:26
Ob das eine sinnvolle Idee ist? Die Begeisterung wird sich in Grenzen halten. 😉
8. Januar 2013 um 15:58
Heeeeee! Das stimmt doch gar nicht.
Nicht ALLE? 😯
8. Januar 2013 um 15:59
Das ist nur eine Vermutung. 😀
Lange nicht alle, muß ja auch nicht.
8. Januar 2013 um 16:06
Jaja, die Vermutung… 😛
Also ich dachte schon alle. Hihi
8. Januar 2013 um 16:07
Da wäre sie wieder. 😀
Unwahrscheinlich, gell? 😉
8. Januar 2013 um 16:54
Lieber Marcus,
nachdem letzten Artikel freue ich mich wieder was Positives von Dir zu lesen! So wie ich das von Dir kenne und gewohnt bin.
Wie immer hast Du mich in Deine Welt mitgenommen, dafür danke ich Dir. Obwohl es heute recht einsam war. 😉 Blechvehikel ist eine treffende Umschreibung und die Leute dahinter werden immer aggressiver. Darum sei also vorsichtig.
Ich wünsche Dir, daß 2013 ab sofort ein positives Jahr für Dich wird.
LG
8. Januar 2013 um 16:55
Liebe Beata,
vielen Dank für Deine Antwort. Es kann eben nicht nur immer alles positiv sein. Bisher gab es wenige Beiträge in dieser Form und das wird hoffentlich so bleiben.
Die gestern an den Tag gelegte Einsamkeit läßt sich nicht weiter steigern. Derlei kann man nur lieben. 🙂
Ja, dieser Ansicht bin ich auch. Immer schneller, immer aggressiver, immer rücksichtsloser scheint das Motto zu sein. Und gleichzeitig gibt es immer weniger Menschen, die Lesen können – von Verstehen will ich gar nicht reden. Das kann gefährlich werden.
Alles Gute,
Marcus
8. Januar 2013 um 17:06
Was bin ich froh, diesen Artikel heute hier lesen zu können. Nachdem ich den vorletzten Artikel gelesen hatte, hab ich mir doch arge Sorgen um Dich gemacht. Umso schöner zu lesen, dass Du Deine Lauferei nun wieder so gut genießen kannst. Ein wirklich sehr beeindruckender Artikel ist das, wo man sich tatsächlich von Dir mitgenommen fühlt. Irgendwann müssen wir mal gemeinsam laufen.
Nur die Begegnung mit den Blechvehikeln sollten wir dabei auslassen. Die sind ja sowas von überflüssig.
Alles Gute für Dich und
liebe Grüße
Kornelia
8. Januar 2013 um 17:07
Ich nehme an, mit einem derartigen Beitrag zum Jahresauftakt hast Du nicht gerechnet – allein, ich auch nicht. Wahrscheinlich sind das die unangenehmsten Situationen, wenn man den Boden unter den Füßen verliert, ohne das kommen zu sehen. Das ist das Leben.
Vielleicht bekommen wir das eines Tages hin – mein Laufareal würde Dir jedenfalls sehr gefallen. Ungeachtet meiner Photos, die können nur einen kleinen Eindruck vermitteln.
Vielen Dank für Deine Antwort, liebe Kornelia.
8. Januar 2013 um 17:16
Lieber Marcus,
thx für dein geniales Laufpost! Erstklassig wie immer! Aber richtig gut kommt es erst auf Papier. Deswegen drucke ich mir das immer aus. Ich habe nicht damit gerechnet, schon heute mit so einem Post erfreut zu werden. Im Gegenteil! Der Schreckt sitzt tief. Paukenschlag! Hoffentlich passt wieder alles bei dir und du hast echt Freude am Streaken! Also weiter so und nicht unterkriegen lassen. Gute Besserung!
MfG
8. Januar 2013 um 17:17
Lieber Otto,
vielen Dank für Deine Antwort. Du darfst Dich gerne von dem Schreck erholen – so wie ich auch. Und ja, ich bin wieder obenauf und genieße mein Täglichlaufen par excellence und die Paukenschläge sind wie oben zu lesen ist – verhallt. Möge es so bleiben.
Alles Gute,
Marcus
8. Januar 2013 um 17:21
**ich erhebe meinen Arm und wie von Magie gesteuert, verschiebt sich das Auto nach hinten** Nächstes Mal einfach in eine andere Dimension zaubern!
8. Januar 2013 um 17:22
Ohne Aussicht auf Wiederkehr? 😉
8. Januar 2013 um 21:12
Schön zu lesen von diesem offensichtlich sehr intensivem Lauferlebnis lieber Marcus. Hatte fast das Gefühl dabei gewesen zu sein. Ja, auch diese Jahreszeit mit dem derzeitigen milden Temperaturen, dem tristen Licht und der Nässe hat zweifelsohne ihren Reiz.
Zum Thema Führerschein: Du hast nämlich zumindest partiell Recht. Es gibt heutzutage die audiounterstützte theoretische Prüfung.
Liebe Grüße
Dietmar
8. Januar 2013 um 21:12
Für die meisten Menschen ist das jetzt draußen kalt, ungemütlich, naß, grau und dunkel – aber das ist genau meine Welt – wie ich sie liebe. Jene Menschen dürfen gerne jammern, ich lächele nur.
Was nützt die beste Prüfung, wenn man hernach die simpelsten Schilder nicht interpretieren kann oder will? Aber im Straßenverkehr hält sich scheinbar niemand mehr an Regeln.
Alles Gute,
Marcus
9. Januar 2013 um 07:21
Lieber Marcus,
selten ist dieses angenehme Gefühl, die Einsamkeit getroffen zu haben, aber ich wünsche Dir, dass Du die Pforten bald und stetig wiederfinden wirst, denn dann wäre das „Täglichlaufen“ wahrscheinlich fast perfekt. Es ist der pure Genuss und oft genug suche ich ihn und kann ihn auf den Läufen nicht finden, selbst im tiefsten Wald nicht, aber so ist es meist, wer zu intensiv danach sucht bzw. giert, findet nicht das Ersehnte.
Ich hoffe Du bist vollständig genesen und die dunklen Wolken haben sich verzogen, ansonsten von mir nochmals gute Besserung.
Salut
Christian
9. Januar 2013 um 10:25
Lieber Christian,
mein letzter Satz in meinem Beitrag drückte zwar eine wage Hoffnung aus, aber ich war nicht davon überzeugt, daß mir heute eine Wiederholung gelingen könnte und doch, ich sollte mich irren. Denn der heutige Morgenlauf war nahezu identisch – in allen Bedingungen.
Ja, das ist auch meine Erfahrung – wenn Du bewußt danach suchst, wirst Du es nicht finden. Suche nicht, akzeptiere die Welt, nehme sie unbewußt an und das, was Du suchst, wird DICH finden – ganz von allein.
Die Wolken, mit ihren Paukenschlägen sind weiter gezogen – möge es so bleiben. Nochmals vielen Dank.
Alles Gute,
Marcus
9. Januar 2013 um 17:23
Hallo Marcus,
deine Laufberichte sind (auch) perfekt für Laufanfänger. Wer die liest und sie auch versteht (!), kann lernen was man mit Laufen erreichen kann. Wenn man seinen Schweinehund besiegt und dabei bleibt.
Gruß Thomas
10. Januar 2013 um 10:02
Das ist möglich, aber ich will das nicht beurteilen. Wenn ich von meiner Person ausgehe, würde ich derlei wohl nicht lesen und zweitens würde es mir auch nichts bringen. Man muß immer seinen eigenen Weg gehen.
18. Januar 2013 um 10:27
[…] Das leben, was man liebt und lieben, was man lebt. « Die Pforte der Einsamkeit […]
28. Dezember 2013 um 10:09
[…] glücklicherweise durfte ich mein Täglichlaufen weiterleben. Nicht viel später trat ich in die Pforte der Einsamkeit ein und war mit den vorherigen Widrigkeiten halbwegs entschädigt. In diesem Monat kam ich so nah […]