Den Moment der Empfindung verkörpern

Manchmal erlebt man während des Täglichlaufens – oder als direkte wie indirekte Konsequenz davon – seltene Momente, die ihresgleichen suchen. Das sind besondere Augenblicke, die nicht alltäglich sind und aus dem Laufeinerlei herausragen – man kann sie nicht bewußt suchen – sie entstehen aus dem Nichts und überraschen plötzlich. Zugegeben, der Sinn im Laufen liegt für mich – wie der Name schon impliziert – im Laufen und nicht im Anhalten. Dennoch, während meines Rückweges am Montag passierte ich eine Badestelle und blickte auf den aufgewühlten See hinaus, der mich wahrhaft magisch anzog. Den Lauf unterbrechend spazierte ich zum Ufer. Mein gesamtes Laufgebiet lag verlassen in seiner unbeschreiblichen Abgeschiedenheit. Leichter Nieselregen bei 19 C° wurde durch einen willenstarken Sprühregen ersetzt. Die überragende Einsamkeit nahm mich komplett in Beschlag, in ihre gnädigen Hände. Die finsteren Boten der Dunkelheit versagten dem strahlenden Licht den Eintritt und warfen den Schleier des Zwielichtes und der Schatten auf die bedrückende Erde. Ich liebe diese nasse und dunkle Atmosphäre in all ihren Facetten.

Ein behutsamer Wind peitschte unaufhörlich Wasser in zahlreichen Wellen an das Land. Der graudunkle Horizont intensivierte die vorherrschende Einsamkeit und vereinte sich in der Ferne mit dem wütenden Seewasser und verschmolz zu einer einzigen kaltherzigen Wand, doch voller berauschender Anmut. Ich schritt zum Ende des Strandes, gerade noch außer Reichweite der Wellenbewegungen und schloß meine Augen. Somit konzentrierte ich mich nur auf die verschiedenen lautmalerischen Töne. Das feuchte Naß beherrschte eindeutig die Szenerie, von den Bäumen tropfte es ohne Unterlaß, kleine Regenperlen kullerten aus meinen Haaren und liefen in Rinnsälen mein Antlitz hinab, die tosenden Wogen klatschten an das Ufer; ich fühlte die brausenden Sturmböen, welche ihrer Leidenschaft nachgingen und versuchten mein Hemd aufzublähen, was auf Grund der Nässe nicht mehr gelang. Das Schilf bog sich im Seewind, eine fragile Verbeugung, wenngleich es seine Stärke nicht verbergen konnte. So stand ich da – wie versteinert – die Welt und das Leben genießend, fühlend. Die unbarmherzige Zeit verharrte gleichsam ruhig in ihrer pulsierenden Macht – Minuten vergingen regungslos bis ich meine Augen wieder öffnete.

Das Bild hatte sich nicht wesentlich verändert, der weitläufige See schien nur noch wütender geworden zu sein. Aus meinem linken Gesichtskreis schwammen zwei Schwäne sehr erhaben, ja, regelrecht majestätisch und doch in einer surrealen Beschaulichkeit durch das nicht stillstehende Gemälde. Bevor sie das Zentrum erreichten, schossen von rechts zwei Wildgänse schimpfend durch die Luft, augenscheinlich aus einer anderen Dimension. Die Tiere verschwanden so schnell wie sie gekommen waren und am Horizont leuchteten zwei weiße Yachten als kaum erkennbare Punkte in der Unendlichkeit. Ich wechselte die Position und betrachtete meine Fußabdrücke, die nun von den stärker werdenden Wellen erbarmungslos überrannt wurden, wieder und wieder. Interessant zu sehen, wie die Abdrücke egalisiert wurden, bis sie nicht mehr vorhanden waren. Verflüchtigt. Für immer.

Sinnbildlich wie das Leben. Man wird geboren, für einen kurzen Zeitraum hinterläßt man seine Spuren – bis sie dereinst von der gelebten Zeit absorbiert werden und leise verblassen. Sie werden zu Reminiszenzen – bis auch diese verloren gehen. Andere Menschen kommen und preisen die Natur erneut – ein sich wiederholendes Wechselspiel. Lebewesen kommen und gehen. Die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft wartet noch auf ihr Engagement – aber hier und jetzt – das ist das Leben. Die Fußabdrücke hinterlassen einen bleibenden Eindruck in meinem Kopf, selbst als sie schon verwischt waren, bestanden sie noch vor meinem geistigen Auge und ich sah jenen gegangenen Weg, der hinter mir liegt – um jetzt an diesem Ort angekommen zu sein. Ein weiter Weg.

Melancholische Erinnerungen materialisieren sich aus den Tiefen meines Gehirns in das höhere Bewußtsein, sie konvergieren nahtlos in die herrschende Witterung. Die Welt scheint nicht existent, das Leben unbedeutend – nur der Augenblick ist von Bedeutung. Sehen, aber nicht mit den Augen. Hören, aber nicht mit den Ohren. Die Luft einatmen, aber nicht mit der Nase. Höchste Konzentration auf sein Inneres, auf das wahre Selbst – die Herrschaft der Sinne an das Herz übergeben und nicht mehr Denken. Allein und einsam. Im strömenden Regen. Von der Welt verlassen. Aufgepeitschte Gischt, von einem liebevollen Sturm mit Inbrunst an das Ufer gezwungen. Ein ganz besonderer Moment, den man weder suchen noch finden kann. Aber man kann ihn mit offenen Armen willkommen heißen. Das ist die gefühlvolle Verkörperung von Zufriedenheit, Vertrauen und Harmonie. Empfindungen. Meine Empfindungen.

27 Antworten zu “Den Moment der Empfindung verkörpern”

  1. Ich bin immer wieder erstaunt wie du mit einzelnen Wörtern umgehen kannst. Der Beitrag ist so schön geschrieben. Ich stand neben dir und habe das gleiche gesehen und gefühlt wie du.

    Ich kenne niemanden der so einfühlsam ist wie. Du liebst die Natur, die Tiere, sogar ein noch so schlechtes Wetter.

    Du bist ein ganz ganz besonderer Mensch – für mich jedenfalls. Danke für Alles!

  2. Merci für Deinen schönen Kommentar! *verneigt sich*

    Was andere Menschen als schlechtes Wetter bezeichnen, ist nun mal mein Lieblingswetter. Dafür mag ich keine Temperaturen über 30 C° – was die meisten wieder als schön erachten.

    Der Moment am Montag war unbeschreiblich – der Text ist nur ein Versuch. Die Realität war schöner!

  3. Den schönen Kommentar hast du dir auch verdient!

    Über 30 ° muss ich auch nicht haben, stört mich aber nicht wirklich. Vom Regen hab ich dieses Sommer wirklich schon mehr als genug.
    Ich liebe auch die Einsamkeit und ich könnte stundenlang an einsamen Plätzen sitzen, stehen, liegen – wie auch immer – und die Seele baumeln lassen. Ob ich das bei Regen könnte, kann ich nicht sagen ;).

    Hab dich lieb!

  4. Ja, permanenter Dauerregen ist natürlich unschön im Sommer. Irgendwann ist es genug. Aktuell bin ich von Dauersonne geplagt. 😉

    In normaler Bekleidung spaziere ich auch eher selten durch den Regen. Meine Regenliebe bezieht sich mehr auf das Laufen. Allerdings beobachte ich den Regen auch sehr gerne von einem trockenen Standort aus – wie es so leise prasselt – herrlich! Beruhigend beim Einschlafen. *knuddel* 🙂

  5. Hallo Marcus,
    es erstaunt mich immer wieder in welch hervorragende Worte und Formulierungen Du solche Situationen fassen und formulieren kannst! Man schließt die Augen und erlebt die von Dir wunderbar beschriebenen Wahrnehmungen selbst, unglaublich. Schon einmal darüber nachgedacht ein Buch zu schreiben? Selten solch wirklich hochkarätige und tiefsinnige Empfindungs- und Wahrnehmungsbeschreibungen rund um das Laufen gelesen, ehrlich!

    LG
    STeffen

  6. Positive Rückmeldungen sind immer schön, Steffen – danke! Einige Leser haben mir schon öfter ans Herz gelegt ein Buch zu schreiben. Der Gedanke ist in der Tat sehr reizvoll, dennoch habe ich das bisher nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

    Das Täglichlaufen hat meine Wahrnehmung sehr sensibilisiert – früher war ich nicht so.

  7. Lieber Marcus,

    wie schon so oft, wenn ich bei Dir lese, fühle ich mich in ein Bild hinein versetzt welches mit jedem Deiner Worte seinen Ausdruck intensiviert und dann auch wieder verändert, fast schon unwirklich und doch emotional sehr nahe. Ich kann mich leider nicht so gut ausdrücken und hoffe es wird verstanden, was ich mit meinen schwachen Worten meine.

    Ich bin zwar sehr emotional aber durch und durch unromantisch, wenn ich allerdings Deine Beiträge lese habe ich das Gefühl durch andere Augen zu sehen und die Gefühle dabei anders zu interpretieren. Danke für die Bilder, die Du mit Deinen Worten malst, ich lese sie sehr gerne, Deine Bilder 😉

    Salut

  8. Lieber Christian,

    da muß ich Dir widersprechen! Deine Texte sind alles andere als mit schwachen Worten formuliert. Im Gegenteil, ich lese sehr gerne bei Dir. Ich sage nur, „Die Geliebte“. 🙂 Besonders auffällig – wie ich finde – die Ähnlichkeit mit meinem Denken. Wenn wir unser Laufen auch unterschiedlich praktizieren, genießen wir es auf eine ähnliche Art. Derartige Genußläufer sind selten.

    Wenn wir hier gerade bei Emotionen sind, kann ich mich gleich auch als absoluten Romantiker outen. 😉

  9. Der Vergleich der verwischenden Fußspuren mit dem Leben, unserer meist unbedeutenden kleinen Spur in der Geschichte, gefällt mir besonders gut, Marcus.
    Das hast du schön ausgedrückt.

    Stefan (der beim Laufen WEDER heftigen Regen NOCH 30° C mag…)

  10. Ja, so ist unser Leben – ein unbedeutender Wimpernschlag in der Unendlichkeit. Nicht wirklich von Relevanz – oder gerade deshalb? Wer weiß.

    Du magst keinen heftigen Regen? Interessant! Denn derzeit mögen anscheinend fast alle Läufer Regen. So kommt es mir vor. 😉

  11. Stimmt, den Regen zu beobachten finde ich auch sehr schön. Das Prasseln nachts, wenn man im Bett liegt mag ich auch sehr. Denn in beiden Fällen wird man nicht nass *gg*.

    Das mit dem Buch musst du dir wirklich überlegen!

  12. Vor allem wenn sich noch Gewitter dazu gesellt – mein Einschlafwetter! Wäre ja schlimm, wenn man im Haus naß werden würde. 😉

    Da muß ich nichts überlegen.

  13. Naja, von so Unwettern und Gewittern hab ich dieses Sommer schon mehr als genug!

    Soll das heissen du schreibst eines? *freu*

  14. Ich weiß – ich dachte auch an ein „normales“ Gewitter, welches keine Schäden erzeugt…

    Nein. Wie gesagt, die Idee ist gut – aber reine Illusion.

  15. Och Mensch nimm mir nicht die Illusion!

    Ein normales Gewitter ist ok 🙂

  16. Das Wetter wird sowieso immer extremer – aber nicht zu ändern.

    Was nicht existiert, kann man nicht nehmen. 😀

  17. Hallo Marcus,
    Deine Beschreibung Deines Erlebnisses mit dem Regen liest sich für mich heute besonders gut. Ich hatte das „Vergnügen“, heute bei 35 Grad zu laufen. Was meinst, Du wonach ich mich gesehnt habe? Du beschreibst Deine Empfindungen wirklich sehr schön und nachvollziehbar. Die Worte so zu finden, ist nicht jedermanns Sache. Da hast Du wirklich eine besondere Gabe für.
    Liebe Grüße
    Kornelia

  18. Danke Kornelia! Nur schade, daß das Gelesene sich nicht sofort in die Realität umsetzen läßt, soll heißen in kühles Naß!

    Ich lief heute auch in feinster Hitze, dabei sehnte ich mich nach vergangenen Montag – aber diese Phase währt nicht ewig. Bald folgt sicher Abkühlung.

  19. Hallöchen,
    ich bin auch mal wieder da.
    Deine Berichte sind einfach immer wieder ein Genuss. Man sieht alles vor seinen Augen wenn man bei dir liest. ES ist nicht zu erklären wwas man derrt fühlt. Ich glaube aber du weisst was ich sagen will.
    Ich schlafe übrigens auch sehr gerne ein wenn sich draußen ein Gewitter ankündigt.
    Am Wochenende will Luke das erstemal mit mir draußen im Garten zelten.
    Das wird ein Spaß. Ich muß noch das alte Bundeswehrzelt lüften. Kam jetzt bestimmt 5 Jahre nicht aus seiner Tasche raus.^^

    LG
    Marco

  20. Wow, ich hatte Gänsehaut beim Lesen… Ich habe mir vorgestellt, neben Dir zu stehen und habe mit Deinen Augen gesehen…. und mir gewünscht, dort am See zu stehen und dieses Naturschauspiel zu erleben.
    Es ist immer wieder ein Genuß, Deine Artikel zu erleben. Ich schreibe bewußt zu „erleben“ und nicht einfach zu „lesen“
    Gerade weil Deine Artikel so interessant sind und oft zum Nachdenken anregen, lese ich so gern bei Dir. Deshalb möchte ich Dir gern einen Blog-Award verleihen, den ich heute von Marianne erhielt. Ich würde mich sehr freuen, wenn du ihn dir bei mir abholen würdest. Du hast ihn verdient – Dein Blog ist eine Bereicherung des Internets.
    Viele liebe Grüße und ein schönes Wochenende wünscht Dir
    Petra

  21. Marco, man kann es nur selbst fühlen. Jedwede Beschreibung ist unzulänglich. Dennoch habe ich es gewagt.

    Ich wünsche Euch viel Spaß beim Zelten – das wird sicher ein Erlebnis für Luke! Ich selbst werde wohl nicht mehr zelten, meine bisherigen Erfahrungen diesbezüglich reichen für zwei Leben. 😉

    Petra, das war ein unendlich schöner Anblick. Ich habe mir an diesem Tag gewünscht, daß er nie vergehen wird. Nun ja, Tempus fugit.

    Du weißt ja, ich habe eine Affinität zu den etwas tiefgründigeren Texten; das konntest Du damals im Forum noch sehen.

    Herzlichen Dank für Deinen Award – ich freue mich darüber! 🙂 Demnächst starte ich vielleicht eine Neuauflage meines selbst kreierten Award – das ist ein schöner Denkanstoß.

    Ich wünsche Euch ein grandioses Wochenende!

  22. Hallo Marcus,
    möchte Dir ebenfalls einen Blog-Award verleihen.
    Ich lese immer gerne Deine Artikel. Ist schön teilweise so „mitzuerleben“, wie Du Deine Läufe empfindest. Auch habe ich nach wie vor sehr großen Respekt davor, dass Du schon so lange jeden Tag läufst und so manche Hürde überwunden hast.
    Wünsche Dir sehr, dass das noch lange so bleiben möge.
    Liebe Grüße
    Kornelia

  23. Herzlichen Dank, Kornelia!

    Wie Du sicherlich weißt, etablierte ich diese Seite einst, um „richtige“ Laufberichte zu schreiben – für mich – die nicht nur aus schnöden Daten bestehen. Daß die Texte Dir und anderen Kommentatoren gefallen, freut mich natürlich. 🙂

    Einen schönen Sonntag!

  24. […] sich noch sanfte bis ungestüme Sturmböen hinzu, kehre ich zu der Quelle meines Seins zurück. Elementares Dasein. Ich laufe nur noch, empfinde, fühle und genieße – und denke nicht mehr. In Frieden und Einklang […]

  25. […] Ich war geneigt anzunehmen, daß ich mein Laufareal en détail kenne, schließlich bewege ich mich seit Jahren tagtäglich dort. Doch ich sollte irren und entdeckte völlig überraschend einen geheimen Zugang zum Wasser, ein traumhaft schöner Ort, den ich seitdem oft frequentierte. Ich verweise auf die Bilder. Weiterhin sollte im August der heißeste Lauf des Jahres stattfinden, bei 34 C°. Der schönste Moment fand ebenfalls im August statt, jener Lauf war einzigartig. Ein Augenblick voller Gefühle, ja, der verkörperten Empfindung. […]

  26. […] Geschwindigkeit. Das war wieder so ein Augenblick, der sehr selten ist. Man kann diese Momente nicht suchen, nein, sie sind da, wenn man nicht damit rechnet. Entstehen aus dem Nichts und bevor […]

  27. […] des Lebens spüre. Für einen Moment die Zeit anhalten, in der Bewegung Stillstand empfinden und den Moment der Empfindung verkörpern. Zurück zu den Gefühlen, zum Fühlen der eigenen Lebendigkeit und emotionalen Kraft in einer […]

Wortmeldung verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s